Erbrecht

Digitaler Nachlass – Vererbbarkeit von Benutzerkonten in sozialen Netzwerken

Dr. Sebastian von Thunen, Rechtsanwalt

I. Sachverhalt

Die minderjährige Erblasserin E. registrierte sich 2011 im Alter von 14 Jahren bei dem sozialen Internet-Netzwerk Facebook. 2012 verunglückte E. unter bisher ungeklärten Umständen tödlich. Sie wurde von ihren sorgeberechtigten Eltern beerbt, die hofften, über das Benutzerkonto (Account) von E. etwaige Hinweise über mögliche Absichten oder Motive für den Fall zu erhalten, dass es sich bei dem Tod um ein Suizid handelte. Dies war jedoch nicht möglich, da Facebook das Benutzerkonto nach Erhalt der Todesnachricht durch einen anderen Nutzer in den sogenannten Gedenkzustand versetzt hatte. Dieser bewirkte, dass ein Zugang zum Benutzerkonto auch bei Eingabe der regulären Zugangsdaten nicht mehr möglich war. Bei Eingabe der Zugangsdaten erschien lediglich der Hinweis auf den Gedenkzustand. Damit war für die Eltern jeglicher Zugriff auf die sie interessierenden Daten gesperrt. Die Mutter von E. begehrte nun von der Betreibergesellschaft Facebook Ireland Ltd. Zugang zum Benutzerkonto ihrer Tochter.

II. Entscheidungsgründe

Das Gericht schließt sich der wohl herrschenden Meinung in der Literatur an, dass auch die höchstpersönlichen Daten im digitalen Nachlass des Erblassers im Wege der Gesamtrechtsnachfolge nach § 1922 BGB als Bestandteil des zwischen ihm und dem jeweiligen Anbieter, hier Facebook, bestehenden Vertragsverhältnisses auf die Erben übergehen. Die in der Literatur teilweise vertretene Auffassung, nach der nur die vermögensrechtlichen Teile des digitalen Nachlasses, nicht hingegen die nicht vermögensrechtlichen vererblich sein sollen, lehnt das Gericht ab, weil eine eindeutige Bestimmung des vermögensrechtlichen Charakters eines Teils des digitalen Nachlasses praktisch nicht möglich sei. Eine unterschiedliche Behandlung des digitalen und des „analogen“ Nachlasses sei außerdem nicht zu rechtfertigen; die Situation entspreche wertungs mäßig vielmehr derjenigen bei Briefen und Tagebüchern, die anerkanntermaßen vererblich sind.

Die von Facebook vertretene Anwendbarkeit irischen Datenschutzrechts lehnt das Gericht ab, lässt sie aber letztlich dahinstehen, weil auch dieses dem Zugriff der Eltern auf das Benutzerkonto jedenfalls nicht entgegenstünde. Im Übrigen stünden weder Vorschriften des deutschen Datenschutzrechts noch Persönlichkeitsrechte Dritter oder höchstpersönliche Rechte der E. dem Zugriff der Eltern als Erben auf das Benutzerkonto entgegen. Insbesondere eine Verletzung des postmortalen Persönlichkeitsrechts von E. verneinte das Gericht mit dem Argument, dass Erben hier die sorgeberechtigten Eltern der minderjährigen E. waren, die als solche zugleich bereits zu deren Lebzeiten Sachwalter des Persönlichkeitsrechts ihres minderjährigen Kindes gewesen seien. Wenn der Zugriff zu Lebzeiten den Sorgeberechtigten der E. möglich gewesen sei, könne im Zugriffsrecht auf die Daten nach deren Tod keine  Verletzung ihres Persönlichkeitsrechts liegen. Dem Zugriff der Eltern auf das Benutzerkonto stehe schließlich auch nicht die sogenannte Gedenkzustandsrichtlinie des Anbieters entgegen, weil in deren Regelungen, die den Zugriff auf das Benutzerkonto „sperren“, eine in derartigen Allgemeinen Geschäftsbedingungen nach § 307 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 BGB unangemessene Benachteiligung des Nutzers und seiner Erben liege.

III. Bewertung und praktische Bedeutung

Die Diskussion um den sogenannten digitalen Nachlass ist in vollem Gange. Mit dem Urteil des LG Berlin liegt nun auch eine erste Gerichtsentscheidung dazu vor, die allerdings nicht rechtskräftig ist. Die Berufung ist beim Kammergericht Berlin anhängig (Az. 21 U 9/16). Zu Recht verneint das Landgericht die von Teilen der Fachliteratur vorgeschlagene Unterscheidung zwischen einem vermögensrechtlichen, deshalb vererbbaren, und einem nicht vermögensrechtlichen, deshalb nicht vererbbaren, Teil des digitalen Nachlasses, die praktisch kaum rechtsicher durchzuführen wäre und im Widerspruch zu sonstigen erbrechtlichen Wertungen, etwa zur Vererbbarkeit von Tagebüchern und persönlichen Briefen, stünde. Gut begründet ist auch die Unzulässigkeit der Regelungen der sogenannten Gedenkzustandsrichtlinie in den Allgemeinen Geschäftsbedingungen von Facebook.
Entscheidend für die rechtliche Behandlung des digitalen Nachlasses dürfte das postmortale Persönlichkeitsrecht werden. Es gehört als solches nicht zum Nachlass, vielmehr sind die nächsten Angehörigen lediglich berechtigt, Angriffe auf die Würde des Verstorbenen abzuwehren. Deshalb ist das Urteil des Landgerichts Berlin auf den digitalen Nachlass volljähriger Erblasser nur eingeschränkt übertragbar. Im vorliegenden Fall konnte das Gericht ausdrücklich offenlassen, ob der Zugriff auf das Benutzerkonto durch die Erben das Persönlichkeitsrecht der Verstorbenen verletzen kann, weil vorliegend die klagende Erbin als Mutter zugleich berechtigt war, das postmortale Persönlichkeitsrecht ihrer verstorbenen minderjährigen Tochter wahrzunehmen. Fälle, in denen die Erben nicht identisch sind mit den Wahrnehmungsberechtigten des postmortalen Persönlichkeitsrechts, sind unter Umständen anders zu entscheiden.

Facebook erlaubt es seinen Nutzern neuerdings, einen sogenannten Nachlasskontakt zu benennen, der bestimmte Inhalte des Benutzerkontos herunterladen kann, individuelle Kommunikation des Verstorbenen jedoch nicht. Diese will Facebook aber bei Nachweis eines „gültigen Testaments oder eines  eindeutigen Einverständnisses“ herausgeben. Auch vor diesem Hintergrund empfehlen sich somit eindeutige Regelungen zum digitalen Nachlass in einer postmortalen Handlungsvollmacht und/oder in letztwilligen Verfügungen. Allerdings  existieren keine Erfahrungswerte, ob die Betreiber sozialer Netzwerke den Berechtigten den Zugriff aufgrund derartiger Regelungen tatsächlich gewähren. Grundsätzlich besteht für die Nutzer die pragmatische Möglichkeit, ihren Hinterblie benen den Datenzugriff zu ermöglichen, indem sie diesen ihre Zugangsdaten zugänglich machen, womit sie sich aber in der Regel gegenüber ihrem Vertragspartner, dem sozialen Netzwerk, vertragswidrig (und möglicherweise auch Persönlichkeitsrechte Drit ter beeinträchtigend) verhalten. Die praktischen Konsequenzen eines solchen Verstoßes dürften gering sein. Im vorliegenden Fall verhinderte jedoch der zwischenzeitig aktivierte „Gedenkzustand“ auch bei Eingabe der regulären Zugangsdaten jeglichen Zugang zum Benutzerkonto bei Facebook.

Insgesamt ist die Diskussion um den digitalen Nachlass insbesondere im Hinblick auf Persönlichkeitsrechte Dritter, deren Korrespondenz mit dem Verstorbenen mitbetroffen ist, sowie die AGB-rechtliche Zulässigkeit eines Totalausschlusses der Erben, die vor allem im wirtschaftlichen Interesse des Betreibers an der Vermeidung von Arbeitsaufwand für Einzelfallprüfungen der Berechtigungsnachweise von Erben liegt, noch längst nicht beendet.

Steuerrecht

Keine Grunderwerbsteuerbefreiung nach § 3 Nr. 3 GrEStG für Anteilsvereinigung durch Erwerb von Gesellschaftsanteilen im Rahmen einer Erbauseinandersetzung

Dr. Bertram Layer, Steuerberater

I. Problemstellung

Befinden sich in einem Nachlass, den sich mehrere Miterben teilen, Grundstücke und weiteres Vermögen und setzen sich die Miterben im Zuge der Nachlassteilung in der Weise auseinander, dass ein Miterbe die Grundstücke übernimmt, die anderen Miterben das übrige Vermögen, so erleichtert die Vorschrift des § 3 Nr. 3 GrEStG die Nachlassteilung dadurch, dass die Grundstücksübertragung von der Erbengemeinschaft auf den einen Miterben nicht nur im Verhältnis seiner Erbquote, sondern vollständig von der Grunderwerbsteuer befreit wird.

Gehört zum Nachlass aber eine grundbesitzende Personen- oder Kapitalgesellschaft und führt die Erbauseinandersetzung dazu, dass sich bei einem Miterben alle Anteile an der grundbesitzenden Personen- oder Kapitalgesellschaft vereinigen, so stellt diese Anteilsvereinigung ebenfalls einen grundsätzlich nach § 1 Abs. 3 Nr. 1 GrEStG der Grunderwerbsteuer unterliegenden Vorgang dar. Es stellt sich die Frage, ob auch dieser grunderwerbsteuerbare Vorgang nach § 3 Nr. 3 Satz 1 GrEStG steuerbefreit sein kann. Mit dieser Frage hat sich der BFH in dem hier kommentierten Urteil vom 25.11.2015 auseinandergesetzt.

II. Sachverhalt

Der Kläger und Revisionsbeklagte (KL) und seine Schwester (S) waren je zur Hälfte Miterben ihrer Ende 2000 verstorbenen Mutter (M). Zum Nachlass der M gehörten u.a. ein Kommanditanteil von 50 % an der A-KG und ihrer Komplementär-GmbH (A-GmbH & Co. KG). Die A-GmbH & Co. KG ist mit 90 % an der grundbesitzenden G- GmbH beteiligt; die weiteren Geschäftsanteile von 10 % hält KL. Im Zuge der notariell beurkundeten Erbauseinandersetzungsvereinbarung vom 8.6.2001 wurde zwischen den Erben vereinbart, dass KL die Gesellschaftsbeteiligung und S im Wesentlichen den restlichen Nachlass erhält.

Die Ausgangssituation vor Erbauseinandersetzung und die rechtliche Situation nach erfolgter Erbauseinandersetzung sind in den Abbildungen auf Seite 70 im Überblick dargestellt.

 III. Entscheidungsgründe

 Zunächst hatte der BFH zu entscheiden, ob im Streitfall die Voraussetzungen des § 1 Abs. 3 Nr. 1 GrEStG (Anteilsvereinigung) erfüllt sind. Der Kläger hat aufgrund der Erbauseinandersetzungsvereinbarung die restlichen Anteile an der A-GmbH & Co. KG erhalten mit der Folge, dass er alleiniger Gesellschafter der A-GmbH & Co. KG geworden ist. Damit ist ihm auch die Beteiligung der grundbesitzenden G-GmbH in vollem Umfang zuzurechnen. Der BFH führt aus, dass der Kläger durch seine unmittelbare Beteiligung von 10 % und seine mittelbare Beteiligung über die A-GmbH & Co. KG zu 90 % an der G-GmbH beteiligt ist und somit mit dem Abschluss des Erbauseinandersetzungsvertrags alle Anteile an der G-GmbH in seiner Hand vereinigt werden. Somit liegt nach Auffassung des BFH ein nach § 1 Abs. 3 Nr. 1 GrEStG steuerbarer Erwerbsvorgang vor.

Der BFH erläutert in diesem Zusammenhang die Bedeutung des in § 1 Abs. 3 Nr. 1 GrEStG geregelten Tatbestands der Anteilsvereinigung. Die Regelung trägt dem Umstand Rechnung, dass demjenigen, der mindestens 95 % der Anteile an einer grundbesitzenden Gesellschaft in seiner Hand vereinigt, eine dem zivilrechtlichen Eigentum an einem Grundstück vergleichbare Rechtszuständigkeit an dem Gesellschaftsgrundstück zuwächst. Dies gilt nach Auffassung des BFH auch für den hier vorliegenden Erwerb einer mittelbaren Beteiligung an einer grundbesitzenden Gesellschaft (hier der G-GmbH), wenn die Beteiligungsquote von 95 % auf jeder Beteiligungsstufe erreicht wird.

Sodann führt der BFH aus, dass der aufgrund der Anteilsvereinigung fingierte Grundstückserwerb des Klägers von der G-GmbH nicht nach § 3 Nr. 3 GrEStG steuerbefreit ist. Der BFH beruft sich hierbei auf den Wortlaut des § 3 Nr. 3 Satz 1 GrEStG, nach dem von der Besteuerung der Erwerb eines zum Nachlass gehörigen Grundstücks durch Miterben zur Teilung des Nachlasses ausgenommen ist. Für die Steuerbefreiung ist nach Auffassung des BFH an dem fiktiven Erwerb des Grundstücks von der grundbesitzenden Kapitalgesellschaft anzuknüpfen. Der Kläger erwirbt danach zwar im Rahmen der Erbauseinandersetzung bedingt durch die Anteilsvereinigung fiktiv ein Grundstück. Dieses Grundstück gehört aber nicht zum Nachlass, sondern es befindet sich im Vermögen der G-GmbH. Nach Auffassung des BFH liegt somit grunderwerbsteuerlich kein Erwerb von der Erbengemeinschaft, sondern ein (fiktiver) Erwerb von der grundbesitzenden Kapitalgesellschaft vor. Auch zivilrechtlich ist nach Auffassung des BFH kein Grundstückserwerb, sondern ein Anteilserwerb gegeben.

Sodann führt der BFH aus, dass auch die Rechtsprechung zur Anwendung der Steuerbefreiung des § 3 Nr. 2 Satz 1 GrEStG nicht auf die Steuerbefreiung nach § 3 Nr. 3 Satz 1 GrEStG übertragbar ist. Die Steuerbefreiung nach § 3 Nr. 2 Satz 1 GrEStG greift nach der Rechtsprechung des BFH auch in Fällen, in denen durch die schenkweise Übertragung des Anteils an einer grundbesitzenden Kapitalgesellschaft der Tatbestand einer Anteilsvereinigung im Sinne des § 1 Abs. 3 Nr. 1 GrEStG erfüllt wird. Der BFH begründet die unterschiedliche Behandlung einer Anteilsvereinigung auf Basis einer Erbauseinandersetzung und einer schenkweisen Anteilsübertragung bezüglich der Befreiung von der Grunderwerbsteuer damit, dass § 3 Nr. 2 Satz 1 GrEStG den Zweck habe, die doppelte Belastung eines Lebensvorgangs (hier der schenkweisen Anteilsübertragung) mit Grunderwerbsteuer und Schenkungsteuer zu vermeiden. Um diesem Gesetzeszweck Rechnung zu tragen, ist nach Auffassung des BFH die Steuerbefreiung nach § 3 Nr. 2 Satz 1 GrEStG bei einer Anteilsvereinigung auf Basis schenkweiser Anteilsübertragungen anwendbar (vgl. hierzu BFH-Urteile vom 12.10.2006, Az. II R 79/05, BStBl. Teil II 2007, 409 und BFH vom 23.5.2012, Az. II R 21/10, BStBl. Teil II 2012, 793). Im Ergebnis kommt der BFH zu der Auffassung, dass eine erweiternde Auslegung der Steuerbefreiung nach § 3 Nr. 3 Satz 1 GrEStG für den hier vorliegenden Fall einer Anteilsvereinigung aufgrund einer Erbauseinanderetzung nicht geboten ist.

IV. Praktische Bedeutung

Im Zuge einer Erbauseinandersetzung, bei der im Nachlass auch Anteile an grundbesitzhaltenden Personen- oder Kapitalgesellschaften enthalten sind, muss das hier erläuterte BFH-Urteil Beachtung finden. Gegebenenfalls kann bei der Gestaltung der Erbauseinandersetzung eine grunderwerbsteuerpflichtige Anteilsvereinigung gemäß § 1 Abs. 3 Nr. 1 GrEStG vermieden werden, in dem beispielsweise einer der Miterben im Zuge des Erbauseinandersetzungsvorgangs eine die Anteilsvereinigung vermeidende Minderheitsbeteiligung erhält.

Unter Hinweis auf die zuvor genannte Rechtsprechung des BFH zur Anwendung der Steuerbefreiung des § 3 Nr. 2 Satz 1 GrEStG in Fällen der schenkweisen Anteilsübertragung bei einer damit verbundenen Anteilsvereinigung im Sinne des § 1 Abs. 3 Nr. 1 GrEStG kann auch durch vorweggenommene Erbfolgemaßnahmen die beabsichtigte Vermögensverteilung möglicherweise auch ohne grunderwerbsteuerliche Belastungen erreicht werden. Allerdings bedarf es im Einzelnen einer genaueren Betrachtung, in welchem Umfang auch bei schenkweisen Anteilsübertragungen tatsächlich von der grunderwerbsteuerlichen Befreiung Gebrauch gemacht werden kann. Die Anzahlvon Gründen, diefür eine vorweggenommene Erbfolgeregelung sprechen können, ist somit durch die hier kommentierte Rechtsprechung des BFH um ein Argument reicher geworden.

Nichtabziehbare Aufwendungen

Wegfall der Verlustvorträge im Sinne von § 8c KStG bei An- teilsübertragung im Wege vorweggenommener Erbfolge

Andrea Seemann, Steuerberaterin

I. Problemstellung und praktische Bedeutung

Werden Anteile an einer verlustbehafteten Kapitalgesellschaft übertragen, die steuerliche Verlustvorträge hat, gehen die steuerlichen Verlustvorträge gemäß § 8c KStG, § 10a GewStG bei einer Übertragung von mehr als 25 % der Anteile auf einen Erwerber bzw. auf eine Erwerbergruppe anteilig und bei Übertragung von mehr als 50 % der Anteile an einen Erwerber bzw. an eine Erwerbergruppe vollständig unter. Für die Frage, ob eine Übertragung von mehr als 25 % bzw. mehr als 50 % der Anteile vorliegt, werden die Übertragungen innerhalb von fünf Jahren zusammengerechnet. Ausnahmen gel- ten, wenn die Gesellschaft im Inland steuerpflichtige stille Reserven hat oder es sich um eine Übertragung im Konzernverbund handelt. Keine Ausnahme enthält die Regelung hingegen für unentgeltliche Übertragungen, z.B. für eine Schenkung von Anteilen an Abkömmlinge. Lediglich aufgrund eines Erlasses der Finanzverwaltung werden die unentgeltliche Übertragung im Wege der vorweggenommenen Erbfolge, die Erbfolge selbst sowie die Übertragung im Rahmen einer Erbauseinandersetzung vom Anwendungsbereich des § 8c KStG, § 10a GewStG ausgenommen (vgl. BMF-Schreiben vom 4.7.2008, Tz. 4, BStBl. I 2008, 736). Im Rahmen der Nachfolgeplanung ist damit auch zu beachten, ob die Übertragung von Anteilen zu einem teilweisen bzw. vollständigen Untergang steuerlicher Verlustvorträge führt. Über diese Fragestellung hatte das Finanzgericht Münster zu entscheiden.

II. Sachverhalt

An der Klägerin, einer im Jahr 1972 gegründeten GmbH, waren V zu 2/3 und S1, einer der Söhne von V zu 1/3 beteiligt. Mit notarieller Urkunde vom 17. Dezember 2008 schenkte V seinem Sohn S1 einen weiteren Geschäftsanteil an der Klägerin in Höhe von ca. 55,2 %. S1 musste die Zuwendung im Rahmen der Erbauseinandersetzung nicht gemäß § 2050, 2052 BGB zur Ausgleichung bringen. Eine Anrechnung auf den Pflichtteil von S1 wurde vereinbart. Die Klägerin hatte körperschaft- und gewerbesteuerliche Verlustvorträge. Das Finanzamt setzte daraufhin die steuerlichen Verlustvorträge mit Hinweis auf § 8c KStG, § 10a Satz 10 GewStG mit 0,– EUR mit der Begründung fest, dass es sich bei der vorstehend beschriebenen Übertragung nicht um eine Übertragung im Rahmen der vorweggenommenen Erbfolge handelte, weil es an einer Ausgleichsverpflichtung gemäß § 2050, 2052 BGB fehlte. Einen Antrag der Klägerin, von einer Anwendung des § 8c KStG aus Billigkeitsgründen gemäß § 163 AO abzusehen, lehnte das Finanzamt ab. Gegen die Anwendung von § 8c KStG, § 10a GewStG und damit gegen den Untergang der Verlustvorträge richtete sich die Klage der Klägerin.

III. Entscheidungsgründe

Das Finanzgericht hatte zum einen zu entscheiden, ob § 8c KStG, § 10a GewStG auch für eine Übertragung im Rahmen einer vorweggenommenen Erbfolge Anwendung findet und zum anderen, ob die Klägerin Anspruch auf eine Billigkeitsmaßnahme im Sinne des § 163 AO hat. Nach Ansicht des Finanzgerichts unterfallen alle rechtsgeschäftlichen entgeltlichen oder unentgeltlichen Übertragungen der Regelung des § 8c KStG und damit auch der Erwerb im Wege einer vorweggenommenen Erbfolge. Auch für eine Billigkeitsregelung ist nach Ansicht des Gerichts kein Raum, da es an einer sachlichen Unbilligkeit fehle. Der im Rechtsstaatprinzip gemäß Art. 20 Abs. 3 GG verankerte Vorbehalt des Gesetzes verbiete es zudem, dass die Finanzverwaltung eine allgemeine Billigkeitsmaßnahme für solche Fallgestaltungen erlasse, in denen die Besteuerung der Gesetzeslage ent- spreche und in denen es an einer sachlichen, vom Gesetzgeber nicht gewollten Härte fehle. Vielmehr seien solche Härten nur durch eine Gesetzeskorrektur zu beheben. Selbst wenn die Regelung im BMF-Schreiben zu § 8c KStG im Einklang mit dem Vor- behalt des Gesetzes stünde, also grundsätzlich rechtlich zulässig wäre, ist die im vorliegenden Fall von dem Finanzamt vertretene Auffassung, dass eine vorweggenommene Erbfolge nur dann vorliege, wenn im Schenkungsvertrag eine Anrechnungspflicht auf die spätere Erbschaft gemäß § 2050 BGB aufgenommen ist, vertretbar. Die Klage wurde folglich als unbegründet abgewiesen. Das Finanzgericht hat die Revision gegen dieses Urteil zugelassen.

IV. Praktische Bedeutung

Es gibt viele Beispiele, in denen die Finanzverwaltung im Rahmen einer allgemeinen  Billigkeitsregelung vom Wortlaut des Gesetzes abweicht, beispielsweise im Umwandlungssteuererlass zu § 22 Abs. 3 UmwStG bzw. im BMF-Schreiben zu § 50i EStG. Vorstehendes Urteil macht deutlich, dass es nicht genügt, wenn die Finanzverwaltung missglückte Gesetzesregelungen durch Billigkeitsregelungen im Erlasswege heilt. Vielmehr bedarf es einer gesetzlichen Korrektur zur Schaffung einer Rechtssicherheit für die Steuerpflichtigen. Bei Übertragung von verlustbehafteten Gesellschaften gilt, dass das Vorliegen einer vorweggenommenen Erbfolge und damit das Fortbestehen der Verlustvorträge nach dem Erlass der Finanzverwaltung durch eine verbindliche Auskunft abgesichert werden muss.

Handelsgesetz

Arbeitnehmer im Aufsichtsrat: Ausweitung oder Ende des deutschen Mitbestimmungsrechts?

Dr. Thomas Frohnmayer, Christian Klein-Wiele, Rechtsanwälte, Stuttgart

  1. Dem Gerichtshof der Europäischen Union wird gemäß 267 AEUV folgende Frage zur Vorabentscheidung vorgelegt: Ist es mit Art. 18 AEUV (Diskriminierungsverbot) und Art. 45 AEUV (Freizügigkeit der Arbeitnehmer) vereinbar, dass ein Mitgliedstaat das aktive und passive Wahlrecht für die Vertreter der Arbeitnehmer in das Aufsichtsorgan eines Unternehmens nur solchen Arbeitnehmern eingeräumt [hat], die in Betrieben des Unternehmens oder in Konzernunternehmen im Inland beschäftigt sind?
  2. Der Senat hält es für vorstellbar, dass Arbeitnehmer durch die deutschen Mitbestimmungsregelungen aus Gründen der Staatsangehörigkeit diskriminiert werden. Der Senat sieht es ferner als vorstellbar an, dass die Freizügigkeit der Arbeitnehmer durch die deutschen Mitbestimmungsregelungen verletzt ist. (Leitsätze der Bearbeiter).

I. Problemstellung

Das deutsche Mitbestimmungsrecht steht am Scheideweg. Das Kammergericht Berlin hält es für möglich, dass Teile der deutschen Mitbestimmungsgesetze gegen europäisches Recht verstoßen und hat diese daher dem Europäischen Gerichtshof zur Prüfung vorgelegt. Die weitere Entwicklung in der Rechtsprechung ist kaum vorhersehbar und könnte sowohl zu einer enormen Ausweitung der unternehmerischen Mitbestimmung auf bislang mitbestimmungsfreie Familienunternehmen als auch zu einer Nichtanwendbarkeit der deutschen Mitbestimmungsgesetze bei der Besetzung von Aufsichtsräten führen.

Um diesen scheinbaren Widerspruch zu verstehen, ist zunächst der Hintergrund des in der Praxis angewandten Mitbestimmungsrechts in Deutschland zu skizzieren:

Die wichtigsten Vorschriften zur Mitbestimmung in Deutschland finden sich im Gesetz über die Drittelbeteiligung der Arbeitnehmer im Aufsichtsrat (DrittelbG) und im Gesetz über die Mitbestimmung der Arbeitnehmer (MitbestG). Der Drittelbeteiligung unterliegen gemäß § 1 Abs. 1 DrittelbG Kapitalgesellschaften mit in der Regel mehr als 500 Arbeitnehmern. Eine Zurechnung von Arbeitnehmern von Konzernunternehmen findet nach § 2 Abs. 2 DrittelbG nur dann statt, wenn zwischen den Unternehmen ein Beherrschungsvertrag besteht oder das abhängige Unternehmen in das herrschende Unternehmen eingegliedert ist.

Bei Überschreitung der Schwelle von 2.000 Arbeitnehmern greift die paritätische Mitbestimmung nach § 1 Abs. 1 MitbestG. Eine Zurechnung findet für Konzernunternehmen nach § 5 MitbestG auch ohne Beherrschungsvertrag statt.

Ein drittelparitätisch zu bildender Aufsichtsrat ist zu einem Drittel mit Arbeitnehmervertretern zu besetzen, ein paritätischer zur Hälfte. Die absolute Größe eines paritätisch besetzten Aufsichtsrats hängt nach § 7 Mit- bestG von der Anzahl der Arbeitnehmer ab. Wahlberechtigt sind jeweils die Arbeitnehmer des Unternehmens.

Der Erlass des MitbestG 1976 führte vor Jahrzehnten bereits zu einer kontroversen politischen und rechtlichen Debatte. Das Bundesverfassungsgericht verneinte schließlich einen Verstoß gegen die Eigentumsgarantie des Art. 14 GG und andere Grundrechte. Danach wurde es lange Jahre um die grundsätzlichen Eckpfeiler der unternehmerischen Mitbestimmung ruhiger.

Nun steht das deutsche Mitbestimmungsrecht erneut auf dem Prüfstand. In jüngerer Vergangenheit mehrten sich in der Literatur Stimmen, die die geltende Praxis des deutschen Mitbestimmungsrechts für mit dem europäischen Recht unvereinbar halten. Eine vorgeschlagene Lösung ist, die deutschen Mitbestimmungsgesetze europarechtskonform auszulegen, eine andere, Teile der Mitbestimmung wegen ihrer Europarechtswidrigkeit bis zu einer Neuregelung durch den Gesetzgeber nicht mehr anzuwenden.

In der rechtlichen Beurteilung ist indes im Einzelnen sauber zu differenzieren.

Die aus der Sicht des Familienunternehmers wichtigste Frage ist, ob Arbeitnehmer ausländischer Tochtergesellschaften mitbestimmungsrechtlich zur Ermittlung der Schwellenwerte (500 bzw. 2.000 Mitarbeiter) für die unternehmerische Mitbestimmung mitzuzählen sind. Der Wortlaut der Mitbestimmungsgesetze ist nicht eindeutig. Die Praxis orientierte sich in den vergangenen Jahrzehnten bei der Gesetzesauslegung an der Gesetzesbegründung und dem sog. „Territorialitätsprinzip“. Nach diesem Prinzip darf die deutsche Sozialordnung sich nicht auf das Hoheitsgebiet anderer Staaten erstrecken. Danach war lange Zeit weitgehend unbestritten, dass die Zahl der Arbeitnehmer mitbestimmungsrechtlich allein nach den in Deutschland beschäftigten Mitarbeitern zu bestimmen ist. Dieser bis heute herrschenden Ansicht (vgl. die Nachweise bei KG Berlin, Beschl. v. 16.10.2015, 14 W 89/15; ausführlich zur Europa- rechtskonformität in diesem Zusammenhang Hellwig/ Behme, AG 2009, 261, 276 f.) widersprach vor Kurzem das Landgericht Frankfurt am Main. Nach dessen Entscheidung sollen bei der Ermittlung der für die Anwendung der Regeln über die Unternehmensmitbestimmung maßgeblichen Unternehmensgröße die im Ausland beschäftigten Mitarbeiter, insbesondere auch die ausländischer Konzernunternehmen, mit zu berücksichtigen sein (LG Frankfurt/M., v. 16.2.2015, 3-16 O 1/14.). Diese Entscheidung wird derzeit vom Oberlandesgericht Frankfurt überprüft und ist daher noch nicht rechtskräftig. Wenn sich das Landgericht Frankfurt mit dieser Auffassung durchsetzt, hätte dies eine enorme Ausweitung der unternehmerischen Mitbestimmung zur Folge: Bislang mitbestimmungsfreie Familienunternehmen könnten unter Einbeziehung der Arbeitnehmer in ausländischen Betrieben der drittelparitätischen oder sogar der paritätischen Mitbestimmung unterliegen. Bislang nur drittelparitätisch besetzte Aufsichtsräte könnten paritätisch zu absolute Größe zahlreicher Aufsichtsräte steigen.

Mit der Ermittlung der Zahl der Arbeitnehmer verbunden, aber nicht notwendigerweise einheitlich zu beurteilen (Ausführlich Krause, ZIP 2015, 636, 637 (Fn. 16).), ist die Frage, ob Arbeitnehmern ausländischer Betriebe ein Wahlrecht bei den Aufsichtsratswahlen der Arbeitnehmerseite zusteht.

Wie bei der Ermittlung der Zahl der Arbeitnehmer war aufgrund der Gesetzesbegründung und des Territorialitätsprinzips lange Jahre unumstritten, dass sich das aktive und passive mitbestimmungsrechtliche Wahlrecht allein auf die in Deutschland beschäftigten Arbeitnehmer bezieht.

Dies wurde vom Schrifttum in den letzten Jahren zunehmend bezweifelt. Danach sollen in der Beschränkung des Wahlrechts auf im Inland beschäftigte Arbeitnehmer sowohl ein Verstoß gegen das allgemeine Diskriminierungsverbot nach Art. 18 AEUV als auch eine nicht gerechtfertigte Beschränkung der Arbeitnehmerfreizügigkeit nach Art. 45 AEUV vorliegen (Ausführlich Henssler, in: Ulmer/Habersack/Henssler, Mitbestimmungsrecht, 3. Aufl. 2013, § 3 MitbestG Rn. 43ff.). Im Gegensatz zur Frage des Nichtmitzählens von Auslandsbelegschaften bei den Schwellenwerten für die Anwendbarkeit der deutschen Mitbestimmungsgesetze ist die Nichtberücksichtigung von Arbeitnehmern ausländischer Betriebe beim Wahlrecht nach herrschender Literaturauffassung also europarechtswidrig. Die in den letzten Jahren hierzu ergangene Rechtsprechung ist uneinheitlich. Das Landgericht Landau/Pfalz (LG Landau, Beschl. v. 18.9.2013, HKO 27/13)  und das Landgericht München I (LG München I, Beschl. v. 27.8.2015, HKO 20285/14.) verneinten einen Europarechtsverstoß, da der deutsche Gesetzgeber keine Regelungen für Wahlen durch Arbeitnehmer im EU-Ausland erlassen könne. Ähnlich sah es das Landgericht Berlin (LG Berlin, Beschl. v. 1.8.2015, 102 O 65/14.), während das OLG Zweibrücken (OLG Zweibrücken, Beschl. v. 22.2.2014, 3 W 150/13)  davon ausgeht, dass die bestehenden deutschen Mitbestimmungsgesetze europarechtskonform so ausgelegt werden können, dass Arbeitnehmer im EU-Ausland aktiv und passiv wahlberechtigt sind.

II.  Sachverhalt

Dem Beschluss des Kammergerichts Berlin liegt wie den anderen angeführten Entscheidungen ein sog. „Statusverfahren“ nach § 98 AktG zugrunde. Danach kann bei einem Streit, nach welchen gesetzlichen Vorschriften der Aufsichtsrat zusammenzusetzen ist, eine gerichtliche Entscheidung herbeigeführt werden. Diesen Antrag kann u.a. jeder Aktionär stellen (vgl. § 98 Abs. 2 AktG). Antragsgegnerin im Verfahren vor dem Berliner Kammergericht ist die TUI AG. Diese beschäftigt in Deutschland ca. 10.103 Arbeitnehmer und in den Mitgliedstaaten der europäischen Union ca. 39.536 Arbeitnehmer. Der Aufsichtsrat der TUI AG hat 20 Mitglieder, von denen 10 durch die Arbeitnehmer zu bestimmen sind. Bei den Wahlen zum Aufsichtsrat waren die Arbeitnehmer ausländischer Betriebe entsprechend der gängigen Praxis bislang nicht einbezogen worden. Hervorzuheben ist, dass der Antragsteller nicht – wie teilweise in der Presse suggeriert wurde (Vgl. FAZ v. 26.10.2015 (Nr. 248), Seite 17)  – beantragt hat, dass Ausländer in den Aufsichtsrat gewählt werden dürfen. Vielmehr begehrt der Antragsteller die Mitbestimmungsfreiheit des Aufsichtsrats der TUI AG.

III.   Entscheidungsgründe

Das Kammergericht Berlin hat das Statusverfahren nach § 98 AktG zunächst ausgesetzt und den Europäischen Gerichtshof angerufen. Dieser soll in einem sog. „Vorlageverfahren“ nach Art. 267 AEUV die Frage der Europarechtswidrigkeit des fehlenden Wahlrechts von Mitarbeitern ausländischer Betriebe deutscher Konzerne klären. In seiner Begründung geht das Gericht zunächst aufgrund des deutschen Territorialitätsprinzips und unter Berufung auf die Gesetzesbegründung mit der herrschenden Meinung davon aus, dass als Arbeitnehmer im Sinne des Mitbestimmungsrechts nur Mitarbeiter deutscher Betriebe mitzuzählen sind. Daraus leitet es im Folgenden ab, dass auch nur diese Arbeitnehmer die Aufsichtsratsmitglieder wählen und selbst im Wahlverfahren Rechte haben können. Nach Ansicht des Kammergerichts ist dadurch ein Verstoß gegen Unionsrecht möglich. Zum einen könnten Arbeitnehmer durch die deutschen Mitbestimmungsregelungen aus Gründen der Staatsangehörigkeit diskriminiert sein. Im Gegensatz zu den in Deutschland beschäftigten Arbeitnehmern könnten die in einem Mitgliedstaat beschäftigten Arbeitnehmer, die in der Regel keine Deutschen seien, das Aufsichtsorgan der Antragsgegnerin nicht wählen und in diesen nicht gewählt werden und seien mithin in ihrem Aufsichtsorgan nicht ausreichend repräsentiert. Dadurch sei es möglich, dass im Aufsichtsorgan einseitig die Interessen der im Inland beschäftigten Arbeitnehmer berücksichtigt werden. Eine ausreichende Rechtfertigung hierfür sei nicht erkennbar. Für möglich hält das Gericht zudem eine Verletzung der Vorschriften über die Freizügigkeit der Arbeitnehmer nach europäischem Recht. Die deutschen Regelungen seien geeignet, Arbeitnehmer wegen des drohenden Verlusts ihrer Mitgliedschaft in einem Aufsichtsorgan davon abzuhalten, sich um tatsächlich angebotene Stellen im europäischen Ausland zu bewerben und sich zu diesem Zweck im Hoheitsgebiet der konforme Auslegung des deutschen Mitbestimmungsrechts beseitigt werden. Für den Fall der Europarechtswidrigkeit des deutschen Mitbestimmungsrechts sei der Gesetzgeber zu einer Änderung berufen.

IV. Praktische Bedeutung

Die Vorlage durch das Berliner Kammergericht an den Europäischen Gerichtshof ist wegen der zu beobachtenden Unsicherheiten in der Rechtsprechung zu begrüßen und kann je nach Ausgang des Verfahrens enorme praktische Auswirkungen zeitigen. Wenig vorhersehbar ist, ob der Europäische Gerichtshof eine Diskriminierung ausländischer Arbeitnehmer bejaht. Zwar knüpfen die einschlägigen Vorschriften des DrittelbG und des MitbestG nicht unmittelbar an die Staatsangehörigkeit an, was auf den ersten Blick gegen eine Diskriminierung spricht. Allerdings hat der Europäische Gerichtshof in der Vergangenheit mit dem Argument des „Effet utile“ des Europäischen Rechts auch versteckte, mittelbare oder indirekte Diskriminierungen, bei denen eine Benachteiligung durch die überwiegende Betroffenheit von EU-Ausländern entsteht, ausreichen lassen (Vgl. die Nachweise bei Hellwig/Behme, AG 2009, 261, 265). Ähnlich weit interpretiert der Europäische Gerichtshof die Beeinträchtigung der Freizügigkeit der Arbeitnehmer (Vgl. Hellwig/Behme, AG 2009, 268).

Falls der Europäische Gerichtshof die Europarechtswidrigkeit des mitbestimmungsrechtlichen Wahlverfahrens in Deutschland feststellt, ist die Rechtsfolge dieser Verletzung zu klären. Da das Berliner Kammergericht eine europarechtskonforme Auslegung der Mitbestimmungsgesetze im Vorlagebeschluss abgelehnt hat, muss der Anwendungsvorrang des Europarechts grundsätzlich zur Unanwendbarkeit der Mitbestimmungsgesetze führen. Dies würde in der Konsequenz (vorerst) bedeuten, dass deutsche Aufsichtsräte nur noch aus Vertretern der Anteilseigner zusammenzusetzen wären (vgl. § 96 Abs. 1 Variante 6 AktG) bis der deutsche Gesetzgeber eine neue (europarechtskonforme) Regelung getroffen hat. Wegen der Hoheitsrechte anderer Mitgliedstaaten ist jedoch der Erlass einer diskriminierungsfreien Regelung nicht so einfach möglich. Fraglich wäre z.B., wie ein in Deutschland normiertes Wahlverfahren im Ausland durchgesetzt werden kann.

Die Familienunternehmen insbesondere mit EU-Auslandsgesellschaften sollten die weitere Entwicklung genauestens im Auge behalten. Falls die Mitbestimmungsgesetze europarechtswidrig sind, wären bestehende und besetzte Aufsichtsräte erst nach einem wirksamen und rechtskräftigen Abschluss eines entsprechenden Statusverfahrens neu zu bilden und zu besetzen. So lange blieben die bisherigen Mitglieder ordnungsgemäß im Amt (vgl. § 96 Abs. 4 AktG) (Mense/Klie, DStR 2015, 1.508, 1.511.).

Strategisch kann sich dann vor Erlass einer eventuellen Neuregelung durch den deutschen Gesetzgeber die Umwandlung in eine Europäische Aktiengesellschaft (SE) anbieten, da die Mitbestimmungsfreiheit im Falle einer Europarechtswidrigkeit der deutschen Mitbestimmungsgesetze auf diesem Wege gegebenenfalls für die Zukunft gesichert werden kann. Solche Maßnahmen sollten jedoch erst nach einer umfassenden rechtlichen Beratung im Einzelfall erwogen werden.

Grunderberbsteuer

Ersatzbemessungsgrundlage im Grunderwerbsteuerrecht verfassungswidrig

Dr. Sebastian von Thunen, LL.M., Rechtsanwalt

  1. Die Ersatzbemessungsgrundlage nach 8 Abs. 2 GrEStG i.V.m. § 138 Abs. 2 und 3 BewG für die Grunderwerbsteuer, die u.a. bei Erwerbsvorgängen auf gesellschaftsvertraglicher Grundlage sowie bei Übertragung von mindestens 95 % der Anteile an Gesellschaften zur Anwendung kommt, führt zu einem Bewertungsniveau deutlich unterhalb der bei unmittelbaren Grundstücksveräußerungen maßgeblichen Verkehrswerte. Diese Ungleichbehandlung ist sachlich nicht gerechtfertigt und daher verfassungswidrig.
  1. Der Gesetzgeber ist verpflichtet, spätestens bis zum Juni 2016 rückwirkend zum 1. Januar 2009 eine Neuregelung zu treffen. Bis zum 31. Dezember 2008 ist die Ersatzbemessungsgrundlage weiter anwendbar. (Leitsätze des Bearbeiters)

 

I. Problemstellung

Die Grunderwerbsteuer bemisst sich bei „unmittelbaren“ Erwerbsvorgängen, z.B. aufgrund eines Kaufvertrags über ein Grundstück, nach dem Wert der Gegenleistung, beispielsweise dem Kaufpreis (§ 1 Abs. 1, § 8 Abs. 1, § 9 Abs. 1 Nr. 1 Grunderwerbsteuergesetz (GrEStG)). Diese wird aufgrund der unterschiedlichen Interessenlage von Veräußerer und Erwerber i.d.R. dem Verkehrswert entsprechen.

Wird jedoch nicht unmittelbar das Grundstück selbst veräußert, sondern die Anteile an einer Gesellschaft, die Eigentümerin des Grundstücks ist, kann es sich unter bestimmten Voraussetzungen zwar auch um einen grunderwerbsteuerpflichtigen Vorgang handeln. Das ist namentlich dann der Fall, wenn zum Vermögen einer Personengesellschaft ein inländisches Grundstück gehört und sich der Gesellschafterbestand dieser Personengesellschaft innerhalb von fünf Jahren unmittelbar oder mittelbar dergestalt ändert, dass mindestens 95 % der Anteile am Gesellschaftsvermögen auf neue Gesellschafter übergehen (§ 1 Abs. 2a GrEStG). Oder wenn alle oder zumindest 95 % der Gesellschaftsanteile an einer Personen- oder Kapitalgesellschaft, zu deren Vermögen ein inländisches Grundstück gehört, in einer Hand ver- einigt werden und somit die im Vermögen der Gesellschaft befindlichen Grundstücke mittelbar übergehen (sog. Anteilsvereinigung). In diesen Fällen gibt es aber keine konkrete Gegenleistung für das Grundstück als solches, nach der sich die Grunderwerbsteuer bemessen könnte. Denn der Kaufpreis für die Anteile kann nicht maßgebend sein, weil mit ihm nicht nur der Erwerb des Grundstücks abgegolten wird.

Deshalb muss der Wert des (mittelbar) veräußerten Grundbesitzes nach einer Ersatzbemessungsgrundlage ermittelt werden. Hierbei kommen hypothetische Grundbesitzwerte zum Ansatz, die nach dem Bewertungsgesetz (BewG) zu ermitteln sind. Die entsprechenden Regelungen in § 138 Abs. 2 und 3 BewG sowie den Folgeparagrafen erweisen sich jedoch insofern als problematisch, als sie sich nur unzureichend am gemeinen Wert bzw. Verkehrswert der Grundstücke orientieren. Das Bundesverfassungsgericht hatte bereits in seiner vorletzten Erbschaftsteuer-Entscheidung festgestellt, dass der Ansatz bewusst zu niedriger Grundbesitzwerte im Kontext der Erbschaftsteuer verfassungswidrig ist (BVerfG, Beschluss vom 7.11.2006 – 1 BvL 10/02, NJW 2007, 573).

II. Sachverhalt

Dem hier besprochenen Beschluss des Bundesverfassungsgerichts lagen zwei Ausgangsverfahren zugrunde. Im einen Ausgangsverfahren hatte eine US-Körperschaft im Jahr 2001 alle Anteile an einer GmbH und einer GbR gekauft, zu deren jeweiligem Gesellschaftsvermögen zahlreiche unbebaute, bebaute sowie land- und forstwirtschaftliche Grundstücke gehörten. Die Klägerin des anderen Ausgangsverfahrens war eine GmbH, die im Jahr 2002 von ihrer Alleingesellschafterin, einer AG, den einzigen Geschäftsanteil an einer anderen GmbH, die Eigentümerin eines unbe- bauten und eines bebauten Grundstücks war, erworben hatte – also ein konzerninterner Vorgang. Nach- dem die Einsprüche der Klägerinnen gegen den jeweiligen Grunderwerbsteuerbescheid und ihre Klagen vor dem Finanzgericht erfolglos gewesen waren, hatte der sodann angerufene Bundesfinanzhof die beiden Ausgangsverfahren  ausgesetzt und dem Bundesverfassungsgericht im Hinblick auf die – von den Klägerinnen bestrittene – Verfassungsmäßigkeit der Ersatzbemessungsgrundlage vorgelegt.

III. Entscheidungsgründe

Das Bundesverfassungsgericht stellt eine erhebliche Ungleichbehandlung derjenigen Steuerschuldner, deren Grunderwerbsteuer nach der Ersatzbemessungsgrundlage des § 8 Abs. 2 GrEStG mit Hilfe der Bewertungsvorschriften (§§ 138 ff. BewG) bestimmt wird, gegenüber denjenigen Steuer- schuldnern fest, deren Grunderwerbsteuer auf Grundlage der Regelbe- messungsgrundlage nach § 8 Abs. 1 GrEStG u.a. anhand der Gegenleistung berechnet wird. Da die Vertragschließenden bei einer unmittelbaren Grundstücksveräußerung meist gegenläufige Interessen verfolgten, werde die Gegenleistung, die Grundlage der Regelbemessungsgrundlage sei, regelmäßig dem gemeinen Wert, d.h. dem Verkehrswert des Grundstücks entsprechen. Falls die vereinbarte Gegenleistung im Einzelfall deutlich darunter oder darüber liege, gehe die Rechtspraxis davon aus, dass insoweit eine Schenkung vorliege, die dementsprechend der Schenkungsteuer unterfiele und somit jedenfalls nicht steuerfrei erworben würde.

Demgegenüber wichen die Werte, die nach den Bewertungsregeln der §§ 138 ff. BewG als Ersatzbemessungsgrundlage ermittelt würden, erheblich vom gemeinen Wert ab. Dies ergäbe sich aus den Feststellungen im Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 7.11.2006 zur Erbschaftsteuer (siehe oben). Diese Feststellungen seien insoweit auch für die Anwendung der Bewertungsvorschriften für Zwecke der Grunderwerbsteuer verwertbar. Entscheidend sei, dass die Anwendung der Bewertungsregeln in beiden Steuerarten letztlich auf das gleiche Ziel gerichtet sei, den gemeinen Wert festzustellen.

Das für bebaute Grundstücke angeordnete vereinfachte Ertragswertverfahren (§ 146 Abs. 2 BewG) führe zu Werten, die im Durchschnitt 50 % unter dem gemeinen Wert lägen. Der starre Vervielfältigungsfaktor von 12,5, mittels dessen aus laufenden Erträgen der (ggf. fiktiven) Jahresmiete ein Wert bestimmt werde, sei strukturell ungeeignet, um nahe genug an den gemeinen Wert zu kommen und eine gleichheitsgerechte Besteuerung sicherzustellen.

Des Weiteren werde für unbebaute Grundstücke durchschnittlich lediglich ein Bewertungsniveau von im Ergebnis rund 70 % der Verkehrswerte erreicht, da deren Wert bislang nach § 145 Abs. 3 BewG bei 80 % der amtlichen Bodenrichtwerte angesetzt wird.

Schließlich erfassten die Bewertungsregeln für land- und forstwirtschaftlichen Grundbesitz im Durchschnitt sogar lediglich 10 % des Verkehrswertes.

Ein hinreichend gewichtiger Sachgrund zur Rechtfertigung dieser erheblichen Ungleichbehandlungen gegenüber der Steuerfestsetzung aufgrund der Regelbemessungsgrundlage sei nicht ersichtlich. Sie seien daher mit Art. 3 Abs. 1 GG (Gleichheitsgebot) unvereinbar. Insbesondere könnten die mit der Ersatzbemessungsgrundlage regelmäßig verbundenen Abweichungen vom gemeinen Wert nicht mit etwaigen staatlichen Lenkungszielen gerechtfertigt werden. Verfolge das Gesetz mit der Gegenleistung als Regelbemessungsgrundlage offensichtlich ausschließlich das fiskalische Ziel, die steuerrelevanten Grunderwerbsvorgänge nach dem Verkehrswert zu besteuern, dürfe es bei der Ersatzbemessungsgrundlage keinen anderen Zielen nachgehen. Die Unterschiede seien auch nicht vom Versuch des Gesetzgebers getragen, die Regeln durch Typisierung oder Pauschalierung möglichst einfach handhabbar zu machen. Selbst wenn sie es wären, könnten sie aufgrund ihrer Größenordnung nicht mehr als verfassungsrechtlich hinnehmbare Vernachlässigungen der Besonderheiten des Einzelfalls anerkannt werden.

Die Ungleichbehandlung aufgrund der starken Divergenzen zwischen Regel- und Ersatzbemessungsgrundlage, insbesondere im Hinblick auf die generelle Unterbewertung von Grundvermögen sowie von land- und forstwirtschaftlichem Vermögen, sei somit mit Art. 3 Abs. 1 GG unvereinbar und verfassungswidrig.

IV. Praktische Bedeutung

Nach der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts ist die Ersatzbemessungsgrundlage § 8 Abs. 2 GrEStG i.V.m. § 138 Abs. 2 und 3 BewG rückwirkend ab dem 1. Januar 2009 nicht mehr anwendbar und ist spätestens bis zum 30. Juni 2016 vom Gesetzgeber durch eine Neuregelung zu ersetzen. Die Steuererhebung in Fällen der Regelbemessungsgrundlage (§ 8 Abs. 1 GrEStG) bleibt hier- von unberührt. Die Verletzung von Art. 3 Abs. 1 GG durch § 8 Abs. 2 GrEStG führt nicht zur Nichtigkeit dieser Norm, sondern zur Feststellung ihrer Unvereinbarkeit mit dem Gleichheitssatz. Das Bundesverfassungsgericht hat ihre Fortgeltung bis zum 31. Dezember 2008 angeordnet. Für die Zeit danach bleibt es bei deren Unanwendbarkeit; der Gesetzgeber hat bis zum 30. Juni 2016 Zeit, eine Neuregelung rückwirkend zum 1. Januar 2009 zu beschließen.

Zu dieser verfassungsrechtlich nicht unproblematischen, vom Gericht zwingend angeordneten Rückwirkung einer (steuerverschärfenden) Neuregelung wäre sicher eine detailliertere Begründung angebracht gewesen. Stattdessen belässt es das Bundesverfassungsgericht sinngemäß bei dem Hinweis, dass es nach dem entsprechenden Beschluss vom 7.11.2006 zur Erbschaftsteuer auch kein schutzwürdiges Vertrauen der Steuerpflichtigen in den Bestand der (fortgeltenden!) Bewertungsregeln im Rahmen der Grunderwerbsteuer geben könne.

Nach dem 1. Januar 2009 bereits ergangene Steuerbescheide dürfen jedoch nach § 176 der Abgabenordnung (AO) aufgrund der vorstehenden Entscheidung nicht rückwirkend zu Ungunsten des Steuerpflichtigen geändert werden. Das gilt aber nur, wenn bereits eine formell bestandskräftige Steuerfestsetzung erfolgt ist. Dagegen darf das Finanzamt in Fällen, in denen derzeit ein Einspruchsverfahren gegen eine Grunderwerbsteuerfestsetzung anhängig ist, die nunmehr festgestellte Unanwendbarkeit der Ersatzbemessungsgrundlage berücksichtigen (367 Abs. 2 Satz 2 AO). Deshalb ist in derartigen Fällen eine Einspruchsrücknahme zu erwägen.

Soweit jedoch bestandskräftige Steuerfestsetzungen unter Vorbehalt der Nachprüfung oder vorläufig erfolgt sind (§§ 164, 165 AO), verbietet die Vertrauensschutzregelung § 176 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AO ebenfalls eine Berücksichtigung des Urteils in abändernden Steuerbescheiden.

Für künftig verwirklichte Erwerbsvorgänge ist jedoch davon auszugehen, dass die Finanzverwaltung die Grunderwerbsteuer bis zur Neuregelung der Ersatzbemessungsgrundlage durch den Gesetzgeber nur vorläufig festsetzt (§ 165 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AO) und den entsprechenden Steuerbescheid aufgrund einer gesetzlichen Neuregelung ändert.

Im Ergebnis ist damit zu rechnen, dass künftig die Grunderwerbsteuer auf Vorgänge auf gesellschaftsvertraglicher Grundlage oder bei gesellschaftsrechtlichen Anteilsvereinigungen aufgrund der dem Gesetzgeber verfassungsrechtlich vorgegebenen Orientierung am Verkehrswert von Grundstücken deutlich höher ausfällt als bisher.

Mit ihrer Rüge der Verfassungswidrig- keit haben also die Klägerinnen – und mit ihnen alle anderen Steuerpflichtigen – vom Bundesverfassungsgericht Steine statt Brot bekommen.

Abschließend sei darauf hingewiesen, dass auch hinsichtlich der Bewertungsregeln bei der Grundsteuer ein Vorlageverfahren des Bundesfinanzhofs (BFH) beim Bundesverfassungsgericht anhängig ist (BFH, Beschluss v. 22.10.2014 – II R 16/13). Anknüpfungspunkt ist auch hier die letzte Erbschaftsteuer-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts, mit deren Erwägungen der BFH seine Ansicht von der Verfassungswidrigkeit der insoweit geltenden Bewertungsregeln begründet. Folgt das Bundesverfassungsgericht dieser Argumentation, ist wohl absehbar auch für die Grundsteuer mit deutlich höheren Werten (und damit Steuern) zu rechnen.

Familienrecht

„Beckengurt und Bettgitter“ bedürfen trotz Vorsorgevollmacht der gerichtlichen Genehmigung

Christian Klein-Wiele, Dipl.-Kfm., Rechtsanwalt

Trotz Vorliegens einer Vorsorgevollmacht ist bei Anordnung und Durchführung ärztlicher Sicherungs- und Zwangsmaßnahmen zusätzlich die Genehmigung durch das Betreuungsgericht nach § 1906 Abs. 5 BGB erforderlich.

I. Hintergrund

Viele Familienunternehmer treffen nach wie vor keine Vorsorge für eine unter Umständen lange Zeit der Handlungsunfähigkeit vor ihrem Tod (Vgl. Hennerkes/Kirchdörfer, Die Familie und ihr Unternehmen, 2. Aufl. 2015, S. 231 ff.). Dieses Problem gewinnt durch die Fortschritte in der Medizin täglich eine größere Bedeutung. Prominente Fälle wie der von Michael Schumacher rücken die Tatsache ins Bewusstsein, dass auch jeder Unternehmer in eine schwierige Lage geraten kann, in der private und geschäftliche Angelegenheiten von anderen wahrgenommen werden müssen.

Entgegen einer weit verbreiteten Meinung geht die Entscheidungsbefugnis in solchen Fällen nicht einfach auf die Angehörigen über. Wenn rechtlich verbindliche Erklärungen oder Entscheidungen gefordert sind, besitzen der Ehegatte oder die Kinder keine gesetzliche Vertretungsmacht. Ist keine anderweitige Vorsorge getroffen worden, so bestellt das Betreuungsgericht einen Betreuer, der für den Betroffenen die Entscheidung trifft.

Hierbei ist jedoch keineswegs zwingend, dass das Gericht einen nahen Angehörigen, z.B. den Ehegatten, zum Betreuer bestellt. Dies bedeutet für Familienunternehmer, dass unter Umständen fremde Dritte, wie z.B. Angestellte von Betreuungsvereinen, die Geschicke des Unternehmens leiten und die Familie keinen entscheidenden Einfluss mehr nehmen kann. Um diese Unsicherheiten im gerichtlichen Bestellungsverfahren zu vermeiden, sollte jeder Familienunternehmer über eine umfassende Vorsorgevollmacht verfügen, die der Vollmachtgeber einer oder mehreren Personen seines Vertrauens erteilt. Die Bevollmächtigten können den Vollmachtgeber dann in allen Angelegenheiten vertreten, wenn dieser alters-, unfall- oder krankheitsbedingt dazu selbst nicht mehr fähig ist, sodass eine gerichtliche Betreuerbestellung nicht erforderlich ist. Weitere Vorteile sind, dass sich der Familienunternehmer die zu bevollmächtigende Person selbst aussuchen und auch eine etwaige Vergütung des Bevollmächtigten bestimmen kann.

Allerdings sieht das Gesetz in bestimmten Ausnahmefällen vor, dass trotz Vorsorgevollmacht oder Betreuung zusätzlich die Genehmigung des Betreuungsgerichts erforderlich ist. Eine solche Genehmigung ist u.a. nach § 1906 Abs. 4, Abs. 5 i.V.m. Abs. 2 BGB dann nötig, wenn dem Vollmachtgeber durch mechanische Vorrichtungen, Medikamente oder auf andere Weise über einen längeren Zeitraum oder regelmäßig die Freiheit entzogen werden soll. Das Bundesverfassungsgericht hat nun über die Frage geurteilt, ob durch eine entsprechend formulierte Vorsorgevollmacht dieses gerichtliche Genehmigungserfordernis vermieden werden kann.

II. zum Sachverhalt

Eine in einem Seniorenpflegeheim untergebrachte Frau erteilte im Jahr 2000 ihrem Sohn eine notarielle General- und Vorsorgevollmacht, mit der sie ihn bevollmächtigte, „soweit gesetzlich zulässig, in allen persönli-chen Angelegenheiten, auch soweit sie meine Gesundheit betreffen, sowie in allen Vermögens-, Steuer- und sonstigen Rechtsangelegenheiten in jeder denkbaren Hinsicht zu vertreten und Entscheidungen für mich und an meiner Stelle ohne Einwilligung des Vormundschaftsgerichts zu treffen und diese auszuführen bzw. zu voll- ziehen.“ Die Vollmacht umfasste auch die Befugnis zur Vornahme von Freiheitsentziehungsmaßnahmen durch mechanische Vorrichtung, Medikamente oder auf andere Weise über einen längeren Zeitraum.

Nachdem die Frau mehrfach aus einem Stuhl oder ihrem Bett auf den Boden gefallen war und sich dabei Verletzungen zugezogen hatte, willigte der Sohn in Ausübung der Vollmacht ein, Gitter am Bett der Frau zu befestigen und diese tagsüber mit einem Beckengurt im Rollstuhl zu fixieren.

Das Amtsgericht Heilbronn erteilte die Genehmigung zu den Maßnahmen, allerdings nur befristet. Daraufhin legte der Sohn Rechtsmittel gegen das Genehmigungserfordernis bis hin zum Bundesgerichtshof ein und zog schließlich sogar vor das Bundesverfassungsgericht. Das Genehmigungserfordernis verstoße gegen das Recht auf Selbstbestimmung. Ein staatliches Genehmigungserfordernis komme einer Bevormundung gleich.

III. tragende Gesichtspunkte des Beschlusses des BVerfG

Das Bundesverfassungsgericht hat klargestellt, dass das gerichtliche Genehmigungserfordernis bei freiheitsentziehenden Maßnahmen nicht durch eine weit formulierte Vorsorgevollmacht abbedungen werden kann. Zwar greife die in § 1906 Abs. 5 BGB festgeschriebene Verpflichtung, vor zusätzlichen Freiheitsbeschränkungen trotz Einwilligung der durch Vorsorgevollmacht Bevollmächtigten eine gerichtliche Genehmigung der Einwilligung einholen zu müssen, in das Selbstbestimmungsrecht der Frau aus Art. 2 Abs. 1 GG ein. Das Bundesverfassungsgericht erkennt zudem ausdrücklich die Vorsorgevollmacht als wichtiges Institut an, das darauf gerichtet ist, bei Verlust eigener Entscheidungsfähigkeit nicht unter staatliche Fürsorge gestellt zu werden, sondern durch vertraute Privatpersonen verantwortungsvoll versorgt zu werden. Allerdings sei der Staat verfassungsrechtlich verpflichtet, sich schützend und fördernd vor das Leben, die körperliche Unversehrtheit, die Freiheit und die sexuelle Selbstbestimmung des Einzelnen zu stellen und sie vor Eingriffen von Seiten Dritter zu bewahren, wo die Grundrechtsberechtigten selbst nicht mehr dazu in der Lage sind. Im Rahmen dieses Freiheitsschutzes komme es allein auf den tatsächlichen, natürlichen Willen des Betroffenen an. Könne dem Betroffenen die Notwendigkeit der Freiheitsbeschränkung nicht näher gebracht werden, stelle sich die durch Dritte vorgenommene Beschränkung der Freiheit als besonders bedrohlich dar.

Dieses Bedrohlichkeitsempfinden werde auch nicht dadurch gemindert, dass die Betroffenen im zeitlichen Vorfeld zu einem Zeitpunkt umfassender Vernunft und Geschäftsfähigkeit vorgreiflich in derartige Beschränkungen eingewilligt oder erklärt hätten, die Entscheidung über solche Beschrän- kungen in die alleinige Verantwortung bestimmter Vertrauenspersonen legen zu wollen. Im konkreten Moment der Fixierung stelle sich die Maßnahme unabhängig von vorangegangenen Einverständniserklärungen als Beschränkung der persönlichen Freiheit dar. Daher entspreche es der Wahrnehmung staatlicher Schutzpflichten, wenn der Gesetzgeber in § 1906 Abs. 5 BGB die Zulässigkeit, Erforderlichkeit und Angemessenheit der Einwilligung des Bevollmächtigten in derartige Freiheitsbeschränkungen unter ein gerichtliches Genehmigungserfordernis stelle.

IV. Stellungnahme

Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts ist konsequent und entspricht dem Wortlaut des Gesetzes. In bestimmten Ausnahmefällen ist trotz Vorliegens einer Vorsorgevollmacht eine gerichtliche Überprüfung ärztlicher Sicherungs- und Zwangsmaßnahmen angezeigt und sinnvoll. Diese sind für den Betroffenen in der konkreten Situation mit starken Einschränkungen verbunden, die er im Vorfeld nicht überblicken kann.

Es ist jedoch darauf hinzuweisen, dass dies kein Nachteil der Vorsorgevollmacht gegenüber der gerichtlichen Bestellung eines Betreuers ist. Denn auch im Fall der Bestellung eines Betreuers hätte nach dem vorliegenden Sachverhalt zusätzlich eine gerichtliche Genehmigung eingeholt werden müssen.

Vor diesem Hintergrund ist wegen der mit der Vorsorgevollmacht verbundenen Vorteile insbesondere Familienunternehmern und -gesellschaftern dringend anzuraten, eine solche zu errichten und damit persönlich schwierigen Situationen rechtlich möglichst vorzubeugen.