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Erbrecht – Pflichtteil

Pflichtteilsberechnung bei einer als „vorweggenommene Erbfolge“ bezeichneten lebzeitigen unentgeltlichen Zuwendung  des Erblassers

von Prof. Dr. Knut Werner Lange, Bayreuth

  1. Erfolgt eine Zuwendung „im Wege vorweggenommener Erbfolge unentgeltlich“, ist für die Pflichtteilsberechnung im Auslegungsweg zu ermitteln, ob der Erblasser damit eine Ausgleichung gemäß §§ 2316 Abs. 1, 2050 Abs. 3 BGB, eine Anrechnung gemäß § 2315 Abs. 1 BGB oder kumulativ Ausgleichung und Anrechnung gemäß § 2316 Abs. 4 BGB anordnen  wollte.
  2. Ausschlaggebend für den Willen des Erblassers ist, ob mit seiner Zuwendung zugleich auch eine Enterbung des Empfängers mit bloßer Pflichtteilsberechtigung festgelegt (Anrechnung) oder aber nur klargestellt werden sollte, dass der Empfänger lediglich zeitlich vorgezogen bedacht wird, es im Übrigen aber bei den rechtlichen Wirkungen einer Zuwendung im Erbfall verbleiben soll (Ausgleichung).
  3. Genügen Erben im Rahmen ihrer Darlegungs- und Beweislast – soweit ihnen möglich – konkret zum Wert der Zuwendung vorzutragen, obliegt es dem Pflichtteilsberechtigten im Rahmen der ihn treffenden Auskunftspflichten, diesem Vorbringen seinerseits substantiiert zu entgegnen.

Problemstellung und praktische Bedeutung

Der vorausschauenden Gestaltung der Nachfolge kommt in Familienunternehmen eine herausgehobene Bedeutung zu. Mit Blick auf den bei jeder Unternehmensnachfolge drohenden Liquiditätsverlust spielt neben der steueroptimierenden Gestaltung eine rechtzeitige Auseinandersetzung mit den Pflichtteilsansprüchen weichender Erben eine zentrale Rolle. Völlig zu Recht wird immer wieder geraten, die Thematik bei Zeiten systematisch anzugehen, die Unternehmensnachfolge aktiv zu gestalten, Freibeträge mehrfach auszunutzen und die Dinge nicht einfach treiben zu lassen. Allerdings muss man dabei stets sehr sorgfältig und umsichtig vorgehen, wie der vom 4. Zivilsenat des BGH entschiedene Fall eindrucksvoll verdeutlicht. Die Erblasserin hatte mehr als zwanzig Jahre vor ihrem Tod einen von ihr geführten Großhandelsbetrieb für Herrentextilien und -accessoires auf ihren Sohn übertragen. Diese Übertragung erfolgte mittels Übergabevertrag, wie es dort hieß „im Wege vorweggenommener Erbfolge unentgeltlich“. Wenige Jahre später setzte sie in einem notariellen Testament ihre Tochter zur Erbin ein. Nach dem Tod seiner Mutter machte der enterbte Sohn gegen seine Schwester als Alleinerbin Pflichtteilsansprüche geltend. Gestritten wurde nun, ob und wenn ja in welcher Höhe sich der Sohn den Wert des bereits auf ihn übergegangenen Großhandelsbetriebs auf seinen Pflichtteilsanspruch anrechnen lassen muss. Dazu kam es entscheidend auf den Willen der Erblasserin an, als sie ihrem Sohn das Unternehmen „im Wege vorweggenommener Erbfolge unentgeltlich“ übertragen hatte.

Entscheidungsgründe und weitere Hinweise

Lebzeitige Vorempfänge, wie hier der Familienbetrieb, können sich höchst unterschiedlich auf die Pflichtteilsberechnung auswirken, kennt doch das BGB drei denkbare Gestaltungs- formen: die Bestimmung, wonach die Zuwendung auf den Pflichtteil anzurechnen ist (§ 2315 Abs. 1 BGB), die Anordnung, die Zuwendung zur Ausgleichung zu bringen (§§ 2316 Abs. 1, 2050 Abs. 3 BGB) und die Möglichkeit, beide Bestimmungen miteinander zu verbinden (§ 2316 Abs. 4 BGB). Die Ermittlung von Ausgleichs-, Anrechnungs- oder Ausgleichs-/Anrechnungspflichtteil folgt wegen der jeweiligen tatbestandlichen Voraussetzungen ganz unterschiedlichen Berechnungsweisen. Wie wichtig diese Unterscheidung ist, verdeutlicht folgendes Rechenbeispiel. Der Wert des Großhandelsbetriebs soll sich auf 400.000 € belaufen, derjenige des Nachlasses soll 800.000 € betragen. Bei einer Anrechnung nach § 2315 Abs. 1 BGB stünde dem Sohn kein weiterer Pflichtteilsanspruch mehr zu. Denn in diesem Fall wird zunächst sein Pflichtteil unter Einbeziehung der lebzeitigen Zuwendung berechnet und davon sodann die Zuwendung abgezogen (800.000 € + 400.000 € = 1.200.000 € : 4 [Pflichtteilsquote] = 300.000 € abzüglich 400.000 € = – 100.000 €). Wäre hingegen eine Ausgleichung nach § 2316 Abs. 1 BGB vorzunehmen, so müsste der Wert der Zuwendung vom Erbteil abgezogen und erst danach der Pflichtteil berechnet werden (800.000 €  + 400.000 €  = 1.200.000 € : 2 [Zahl der Abkömmlinge] = 600.000 € – 400.000 € = 200.000 € : 2 = 100.000 €). In diesem Falle stünde dem Sohn also noch ein Pflichtteilsanspruch gegen seine Schwester zu. Ist schließlich von einer gleichzeitigen Ausgleichungs- und Anrechnungsanordnung nach § 2316 Abs. 4 BGB auszugehen, ist der Pflichtteil zunächst im Wege der Ausgleichung zu ermitteln. Dieser Wert ist sodann um die Hälfte des Zuwendungswertes zu kürzen (100.000 € – 200.000 € = – 100.000 €). Dem Sohn stünde in diesem Fall kein weiterer Anspruch mehr zu.

Der Erblasser hat es selbst in der Hand, durch rechtzeitige und eindeutige Bestimmung die konkret gewollte Form der Berücksichtigung der Zuwendung festzulegen (vgl. Lange in Münchener Kommentar zum BGB, 5. Aufl. 2010, § 2315 Rn. 10). Vom BGH zu entscheiden war die Frage, für welche Gestaltungsmöglichkeit sich die Erblasserin entschieden hatte, da jede von ihnen zu unterschiedlichen Ergebnissen führt. Die von ihr gewählte Formulierung „im Wege vorweggenommener Erbfolge unentgeltlich“ war diesbezüglich auslegungsbedürftig. Die dazu notwendige Ermittlung des Erblasserwillens ist nur im Wege einer Gesamtbewertung aller relevanten Umstände möglich, da es an einer gesetzlichen Vermutungsregel fehlt. Dabei seien, so der BGH, insbesondere der zeitliche Zusammenhang zwischen Zuwendung und Testamentserrichtung, der Vermögensgegenstand und seine wirtschaftliche Verwertbarkeit durch den Empfänger vor dem Erbfall, sowie die Größenordnung der vorgezogenen Vermögenszuwendung zu berücksichtigen. Bedeutsam könnte auch die Motivation der Erblasserin sein, ihre Kinder gleichmäßig zu behandeln. Der BGH geht davon aus, dass ein Erblasser, der mit seiner Zuwendung zugleich eine Enterbung des Empfängers festlegt, regelmäßig eine Pflichtteilsanrechnung wünscht. Möchte er nur klarstellen, dass der Empfänger zeitlich vorgezogen bedacht wird, es im Übrigen aber bei den rechtlichen Wirkungen einer Zuwendung im Erbfall verbleiben soll, ist eine Ausgleichung gewollt. Gerade bei der lebzeitigen Übergabe eines Betriebs macht man sich aber regelmäßig keine Gedanken über eine mögliche Enterbung des Zuwendungsempfängers, da das Familienunternehmen nicht auf ein Kind übertragen wird, mit dem sich der Erblasser nicht versteht. Dies kann sich aber nach dem Vollzug der Übertragung ändern, namentlich wenn Meinungsverschiedenheiten zwischen Junior und Senior über die Unternehmensführung auftreten.

Der BGH hat sich nun schon zum dritten Mal intensiver mit dem Begriff der „vorweggenommenen Erbfolge“ befassen müssen (zuvor NJW 1982, 43; NJW-RR 1989, 259). Deutlich geworden ist dabei stets, dass diese Paraphrase keinesfalls ein „rechtliches Nichts“ ist, was vor allem deshalb bedeutsam ist, da sich in vielen alten Notarverträgen eine solche Formulierung findet. So griffig der Ausdruck auch sein mag, so juristisch unbestimmt und auslegungsbedürftig ist er. Die Gestaltungspraxis ist vor diesem Hintergrund gehalten, die  pflichtteilsrechtlichen Wirkungen einer „vorweggenommenen Erbfolge“ in der Vertragsurkunde eindeutig darzustellen, um Rechtssicherheit zu schaffen. Dies gilt umso mehr, als eine nachträgliche Anordnung der Anrechnung nicht möglich ist (Lange in Münchener Kommentar zum BGB, 5. Aufl. 2010, § 2315 Rn. 10) und der Übergebende sich daher spätestens bei der Übergabe festlegen muss.