BGH, Beschluss vom 22.11.2010, II ZB 7 / 09

 

Tatbestand

Der Musterkläger verlangt von der Musterbeklagten
Schadensersatz wegen verspäteter Ad-hoc-Mitteilung über das vorzeitige
Ausscheiden ihres Vorstandsvorsitzenden Prof. S. 2 Nach der Hauptversammlung
der Musterbeklagten vom 6. April 2005 trug sich Prof. S. … zunehmend mit dem
Gedanken, vor Ablauf seiner bis 2008 reichenden Bestellung als
Vorstandsvorsitzender auszuscheiden. Seine Ehefrau, die als Führungskraft sein
Büro betreute, weihte er in diese Überlegungen ein. Am 17. Mai 2005 erörterte
er seine Absicht mit dem Aufsichtsratsvorsitzenden K.…. Am 1. Juni 2005 wurden
die Aufsichtsratsmitglieder W.… und L.… über die Pläne informiert, spätestens
am 15. Juni 2005 setzte Prof. S.… das Vorstandsmitglied Dr. Z.…, der sein
Nachfolger als Vorstandsvorsitzender werden sollte, in Kenntnis. Am 6. Juli
2005 wurde die Chefsekretärin B.… informiert, ab dem 10. Juli 2005 arbeiteten
der Kommunikationschef S.…, Frau S.… und Frau B.… an einer Pressemitteilung,
einem externen Statement und einem Brief an die Mitarbeiter der
Musterbeklagten.

Am 13. Juli 2005 wurde zu einer Aufsichtsratssitzung auf den
28. Juli 2005 eingeladen. Die Einladung enthielt ebenso wie die Einberufung des
Präsidialausschusses des Aufsichtsrats auf den 27. Juli 2005 keinen Hinweis auf
einen möglichen Wechsel in der Person des Vorstandsvorsitzenden. Am 18. Juli
2005 verständigten sich Prof. S.… und der Aufsichtsratsvorsitzende K.… darauf,
in der Aufsichtsratssitzung vom 28. Juli 2005 das vorzeitige Ausscheiden von
Prof. S.… zum Ende des Jahres und die Bestimmung von Dr. Z.… zum Nachfolger
vorzuschlagen. Am 25. Juli 2005 erörterte Prof. S.… mit dem
Aufsichtsratsmitglied und Vorsitzenden des Konzern- und Gesamtbetriebsrats Kl.
… den Wechsel. Ob Kl.… bereits am 11. Juli 2005 telefonisch über den
beabsichtigten Wechsel informiert wurde, ist streitig. Kl.… besprach die
Personalfrage mit den übrigen Arbeitnehmervertretern, führte Gespräche mit Dr.
Z.… und kündigte am 27. Juli 2005 Prof. S.… an, dass die Arbeitnehmerbank für
den Wechsel stimmen werde.

Am 27. Juli 2005 wurden die beiden weiteren Mitglieder des
Präsidialausschusses Dr. Kl.… und Dr. S.… informiert , bevor um 17.00 Uhr die
Sitzung des Präsidialausschusses begann. Der Präsidialausschuss beschloss, dem
Aufsichtsrat am Folgetag vorzuschlagen, dem vorzeitigen Ausscheiden von Prof.
S.… zum Jahresende und der Bestellung von Dr. Z.… zu seinem Nachfolger
zuzustimmen. Prof. S.… informierte um 18.30 Uhr das Vorstandsmitglied Dr. C.…,
das in der Öffentlichkeit als möglicher Nachfolger des Vorstandsvorsitzenden
gegolten hatte , und um 19.00 Uhr die beiden weiteren Vorstandsmitglieder Dr.
G.… und U.… von dem beabsichtigten Wechsel. Um 19.30 Uhr fand ein Abendessen
der Anteilseignervertreter unter den Aufsichtsratsmitgliedern statt, bei dem
die Empfehlung des Präsidialausschusses Gesprächsthema war.

Am 28. Juli 2005 beschloss der Aufsichtsrat der
Musterbeklagten gegen 9.50 Uhr, dass Prof. S.… zum Jahresende aus dem Amt
ausscheiden und Dr. Z.… neuer Vorstandsvorsitzender werden sollte. Eine
entsprechende Ad-hoc-Mitteilung sandte die Musterbeklagte an die
Geschäftsführungen der Börsen und der Bundesanstalt für
Finanzdienstleistungsaufsicht (BaFin) vorab um 10.02 Uhr, um 10.32 Uhr wurde
die Ad-hoc-Mitteilung in der Meldungsdatenbank der Deutschen Gesellschaft für
Adhoc- Publizität veröffentlicht. Der an diesem Tag bereits nach der
Veröffentlichung der Ergebnisse des zweiten Quartals 2005 angestiegene Kurswert
der Aktien der Musterbeklagten stieg nach der Mitteilung über den Wechsel im
Amt des Vorstandsvorsitzenden deutlich an.

Mehrere Anleger, die Aktien der Musterbeklagten vor diesem
Zeitpunkt verkauft hatten, haben wie der Musterkläger Klage gegen die
Musterbeklagte erhoben, mit der sie Schadensersatz wegen der ihrer Ansicht nach
verspäteten Ad-hoc- Mitteilung verlangen. Das Landgericht Stuttgart hat das
Oberlandesgericht Stuttgart um die Entscheidung zu mehreren, für die Verfahren
entscheidungserheblichen Feststellungen nach § 4 KapMuG gebeten. Das
Oberlandesgericht Stuttgart hat mit Musterentscheid vom 15. Februar 2007
festgestellt, dass eine Insider-Information im Sinne des § 37b Abs. 1 WpHG erst
am 28. Juli 2005 um ca. 9.50 Uhr entstanden sei und dass die Musterbeklagte
diese unverzüglich veröffentlicht habe.

Der Bundesgerichtshof hat diesen Musterentscheid mit
Beschluss vom 25. Februar 2008 (II ZB 9/07, ZIP 2008, 639) aufgehoben und die
Sache zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das Oberlandesgericht
Stuttgart zurückverwiesen. Am 22. April 2009 hat das Oberlandesgericht
Stuttgart einen Musterentscheid mit folgendem Inhalt erlassen:

1. Es wird festgestellt, dass in der Zeit vom 17. Mai 2005
bis zur Beschlussfassung des Aufsichtsrats der Musterbeklagten am 28. Juli 2005
keine Insider-Information des Inhalts entstanden ist, dass Prof. S.… gegenüber
dem Aufsichtsratsvorsitzenden die einseitige Amtsniederlegung erklärt hat,

2. Es wird festgestellt, dass am 27. Juli 2005 nach 17.00
Uhr mit der Beschlussfassung des Präsidialausschusses des Aufsichtsrats der
Musterbeklagten eine Insider-Information entstanden ist, dass der Aufsichtsrat
in seiner Sitzung am 28. Juli 2005 über den Vorschlag des Präsidialausschusses
beschließen wird, der vorzeitigen Aufhebung der Bestellung von Prof. S. zum
Vorstandsvorsitzenden zum 31. Dezember 2005 zuzustimmen,

3. Es wird festgestellt, dass die Musterbeklagte von der
Pflicht zur unverzüglichen Veröffentlichung dieser Information nicht bis zur
Beschlussfassung durch den Aufsichtsrat am 28. Juli 2005 gem. § 15 Abs. 3 WpHG
befreit war.

a) Die Musterbeklagte wäre von der Pflicht zur
Veröffentlichung bis zur Entscheidung des Aufsichtsrats am 28. Juli 2005 nach §
15 Abs. 3 WpHG bei Vorliegen der dort geregelten Voraussetzungen kraft Gesetzes
und unabhängig von einer bewussten Entscheidung über diesen Aufschub befreit
gewesen.

b) Es wäre für den berechtigten Aufschub nicht darauf
angekommen, ob die Gründe für diese Befreiung an die Bundesanstalt für
Finanzdienstleistungsaufsicht (BaFin) mitgeteilt worden sind.

c) Die Voraussetzungen für den Aufschub waren nur teilweise
gegeben.

aa) Der Schutz der berechtigten Interessen der
Musterbeklagten erforderte den Aufschub der Veröffentlichung.

bb) Eine Irreführung der Öffentlichkeit durch den Aufschub
war nicht zu besorgen.

cc) Die Vertraulichkeit der Insider-Information war nicht
gewährleistet, weil die Musterbeklagte ein Aufsichtsratsmitglied nicht
ausreichend über die insiderrechtlichen Pflichten und Sanktionen aufgeklärt
hat.

4. Es wird festgestellt, dass die Musterbeklagte auch bei
Erforderlichkeit einer bewussten Entscheidung über den Aufschub nach § 15 Abs.
3 WpHG und trotz der fehlenden Belehrung des Aufsichtsratsmitglieds nicht nach
§ 37b WpHG auf Schadensersatz wegen Unterlassens einer unverzüglichen
Veröffentlichung der unter 2 genannten Insider-Informationen haftet, weil sie
sich darauf berufen kann, dass der geltend gemachte Schaden gleichermaßen
eingetreten wäre, wenn sie eine bewusste Entscheidung über den Aufschub
getroffen sowie das mit den Insiderregeln hinreichend vertraute
Aufsichtsratsmitglied noch einmal belehrt und damit rechtmäßig gehandelt hätte.

Dagegen hat der Musterkläger Musterrechtsbeschwerde
eingelegt, der zwölf weitere Kläger beigetreten sind.

Gründe

Das Oberlandesgericht hat zur Begründung seiner Entscheidung
im Wesentlichen ausgeführt:

Es lasse sich nicht feststellen, dass am 17. Mai 2005 oder
später eine Insider- Information entstanden sei, Prof. S.… lege sein Amt
unabhängig von der Zustimmung des Aufsichtsrats einseitig zum Jahresende 2005
nieder. Erst mit der Beschlussfassung des Präsidialausschusses am 27. Juli 2005
nach 17.00 Uhr sei eine Insider-Information des Inhalts entstanden, dass der
Aufsichtsrat auf seiner Sitzung am folgenden Tag über den Vorschlag des
Präsidialausschusses entscheiden werde. Die Absicht oder Überlegung des
Vorstandsvorsitzenden, vorzeitig, aber im Einvernehmen mit dem Aufsichtsrat aus
dem Amt auszuscheiden, könne kursrelevant sein. Für solche zukunftsbezogenen
Umstände als Insider-Information komme es aber darauf an, ob die Verwirklichung
der Absicht oder des Vorhabens hinreichend wahrscheinlich sei. Einzelne
Zwischenschritte als Insider-Informationen anzusehen sei überflüssig, weil es
auf die hinreichende Wahrscheinlichkeit des Eintritts des künftigen
angestrebten Ereignisses ankomme. Wenn man jeden eingetretenen Zwischenschritt
im Fall seiner Kursrelevanz als Insider-Information ansehen wolle, führe das zu
denselben Ergebnissen, weil solche Umstände aus der Sicht eines verständigen
Anlegers nur kursrelevant sein könnten, wenn das künftige Ereignis hinreichend
wahrscheinlich eintreten werde.

Die Zustimmung des Aufsichtsrats zum vorzeitigen Rücktritt
von Prof. S.…, die der maßgebende kursrelevante künftige Umstand sei, sei vor
der Verabschiedung des Beschlussvorschlags durch den Präsidialausschuss am 27.
Juli 2005 nach 17.00 Uhr nicht hinreichend wahrscheinlich gewesen. Aus der
Sicht eines verständigen Anlegers sei sie hinreichend wahrscheinlich, wenn eine
Vorabstimmung erfolgt sei. Erst mit der einstimmigen Abstimmung im paritätisch
besetzten Präsidialausschuss sei erkennbar gewesen, dass der Vorschlag, dem
Rücktritt von Prof. S.… zuzustimmen und Dr. Z.… zu seinem Nachfolger zu
bestimmen, gleichermaßen bei Arbeitnehmerwie Anteilseignervertretern Rückhalt
gefunden habe. Außerdem habe erst damit festgestanden, dass der
Aufsichtsratsvorsitzende K.… die Personalie auf die Tagesordnung des
Aufsichtsrats setzen würde.

Die Voraussetzungen für einen Aufschub der Veröffentlichung
der Insider-Information bis zum folgenden Tag hätten zwar nicht vorgelegen,
weil das Aufsichtsratsmitglied La.… nicht über seine insiderrechtlichen
Pflichten und Sanktionen belehrt gewesen sei und so die formalen Anforderungen
zur Gewährleistung der Vertraulichkeit nicht gewahrt gewesen seien. Der von den
Klägern behauptete Schaden wäre aber auch eingetreten, wenn der Zeuge La.…
belehrt gewesen wäre und sich die Musterbeklagte bewusst für einen Aufschub
entschieden hätte.

III. Die Entscheidung über die Musterrechtsbeschwerde hängt
von der Auslegung von Art. 1 Abs. 1 der Richtlinie 2003/6/EG, Art. 1 Abs. 1 der
Richtlinie 2003/124/EG ab.

1. Nach nationalem deutschen Recht ist ein Emittent von
Finanzinstrumenten, die zum Handel an einer inländischen Börse zugelassen sind,
einem Dritten unter bestimmten weiteren Voraussetzungen zum Ersatz des durch
die Unterlassung entstandenen Schadens verpflichtet, wenn er es unterlässt,
unverzüglich eine Insider-Information zu veröffentlichen (§ 37b Abs. 1 WpHG).
Nach § 15 Abs. 1 WpHG muss ein Inlandsemittent Insider-Informationen, die ihn
unmittelbar betreffen, unverzüglich veröffentlichen. § 13 Abs. 1 Satz 1 WpHG
definiert eine Insider-Information als eine konkrete Information über nicht
öffentlich bekannte Umstände, die sich auf einen oder mehrere Emittenten von
Insiderpapieren – das sind u.a. Finanzinstrumente, die an einer inländischen
Börse zum Handel zugelassen sind – oder auf die Insiderpapiere selbst beziehen
und die geeignet sind, im Falle ihres öffentlichen Bekanntwerdens den Börsen-
oder Marktpreis der Insiderpapiere erheblich zu beeinflussen. Eine solche
Eignung ist gegeben, wenn ein verständiger Anleger die Information bei seiner
Anlageentscheidung berücksichtigen würde (§ 13 Abs. 1 Satz 2 WpHG). Als
Umstände nach § 13 Abs. 1 Satz 1 WpHG gelten auch solche, bei denen mit
hinreichender Wahrscheinlichkeit davon ausgegangen werden kann, dass sie in
Zukunft eintreten werden (§ 13 Abs. 1 Satz 3 WpHG). § 13 Abs. 1 WpHG beruht auf
Art. 1 Abs. 1 Nr. 1 der Richtlinie 2003/6/EG und auf Art. 1 Abs. 1 und 2 der
Richtlinie 2003/124/EG, die deshalb bei der Auslegung der nationalen Vorschrift
zu berücksichtigen sind.

2. Die Entscheidung über die Musterrechtsbeschwerde hängt
davon ab, ob bei einem zeitlich gestreckten Vorgang, bei dem über mehrere
Zwischenschritte ein bestimmter Umstand verwirklicht oder ein bestimmtes
Ereignis herbeigeführt werden soll, für die Anwendung von Artikel 1 Abs. 1 der
Richtlinie 2003/6/EG, Artikel 1 Abs. 1 der Richtlinie 2003/124/EG nur darauf
abzustellen ist, ob dieser künftige Umstand oder das künftige Ereignis als
präzise Information nach diesen Richtlinienbestimmungen anzusehen ist, und
demgemäß zu prüfen ist, ob man mit hinreichender Wahrscheinlichkeit davon
ausgehen kann, dass dieser künftige Umstand oder das künftige Ereignis
eintreten wird, oder ob bei einem solchen zeitlich gestreckten Vorgang auch
Zwischenschritte, die bereits existieren oder eingetreten sind und die mit der
Verwirklichung des künftigen Umstands oder Ereignisses verknüpft sind, präzise
Informationen im Sinn der genannten Richtlinienbestimmungen sein können.

a) Die Musterrechtsbeschwerde hat Erfolg, wenn auch die
bereits realisierten Zwischenschritte eines zeitlich gestreckten Vorgangs auf
ihre Kursrelevanz zu untersuchen sind. Das Oberlandesgericht hat zur
Kursrelevanz der Zwischenschritte – von seinem Rechtsstandpunkt aus konsequent
– keine Feststellungen getroffen. Es ist vielmehr davon ausgegangen, dass eine
Insider-Information im Sinn von § 13 Abs. 1 Satz 1 WpHG (Art. 1 Abs. 1 der
Richtlinie 2003/124/EG) im Hinblick auf den künftigen Umstand, dass mit dem Aufsichtsratsbeschluss
das Ausscheiden von Prof. S.… zum Jahresende sicher war, erst entstand, als
dieser Aufsichtsratsbeschluss hinreichend wahrscheinlich war. Die vorgelagerten
Einzelstufen des Entscheidungs- und Vorbereitungsprozesses als bereits
existierende Umstände – wie etwa die Äußerung der Rücktrittsabsicht gegenüber
K.…, das Einverständnis des Aufsichtsratsvorsitzenden, die Information und die
Bereitschaftserklärung von Dr. Z.… – hat es nicht selbständig auf ihre Eignung
zur Beeinflussung des Börsenkurses der Insiderpapiere untersucht. Es hat sie
nur darauf geprüft, ob deshalb mit hinreichender Wahrscheinlichkeit davon
auszugehen war, dass der künftige Umstand eintreten werde. Dagegen ist das
Oberlandesgericht Frankfurt (NJW 2009, 1520, 1521) im Bußgeldverfahren davon
ausgegangen, dass die Verknüpfung mehrerer eigenständiger Umstände zu einer
einheitlichen Gesamtentscheidung dem Wortlaut der Vorschrift des § 13 Abs. 1
Satz 1 WpHG und den Vorgaben der Richtlinien 2003/6/EG sowie 2003/124/EG
widerspreche. Daher komme es nicht darauf an, ab wann die endgültige
Aufsichtsratsentscheidung getroffen worden sei. Die Publizitätspflicht beginne
vielmehr bereits dann, wenn der Bereich interner Willensbildung sich zu einer
konkreten Tatsache verdichtet habe und das Ergebnis dieses
Willensbildungsprozesses gegenüber einem Entscheidungsträger des Unternehmens
als konkrete Tatsache objektiv nach außen zu Tage trete (z.B. Mitteilung
gegenüber einem Aufsichtsratsmitglied, das Amt niederlegen zu wollen).

Beide Auffassungen führen nicht etwa deshalb zum selben
Ergebnis, weil – wie das Oberlandesgericht Stuttgart meint – Zwischenschritte
eines gestreckten Vorgangs nur dann kursrelevant sind, wenn das künftige
Ereignis, auf das sie inhaltlich gerichtet sind, hinreichend wahrscheinlich
eintreten wird. Die Kursrelevanz eines bereits eingetretenen Umstandes oder
Ereignisses hängt nicht stets davon ab, ob ein damit verknüpfter künftiger
Umstand oder verknüpftes künftiges Ereignis hinreichend wahrscheinlich
eintreten wird. Eine Eignung, im Fall der öffentlichen Bekanntmachung einer
Insider-Information den Börsenkurs erheblich zu beeinträchtigen oder spürbar zu
beeinflussen (Art. 1 Abs. 1 der Richtlinie 2003/6/EG, Art. 1 Abs. 2 der
Richtlinie 2003/124/EG), ist gegeben, wenn ein verständiger Anleger die
Information bei seiner Anlageentscheidung berücksichtigen (§ 13 Abs. 1 Satz 2
WpHG) oder wahrscheinlich als Teil der Grundlage seiner Anlageentscheidung
nutzen würde (Art. 1 Abs. 2 der Richtlinie 2003/124/EG). Auf die hinreichende
Wahrscheinlichkeit des Eintritts künftiger Umstände wird nicht abgestellt. Zwar
mag ein verständiger Anleger im Hinblick auf künftige Ereignisse seine
Anlageentscheidungen insbesondere davon abhängig machen, inwieweit mit
hinreichender Wahrscheinlichkeit vom Eintritt eines Ereignisses ausgegangen
werden kann. Ein Anleger wird bei seiner Anlageentscheidung aber auch in seine
Überlegungen einbeziehen, dass ein Entscheidungsprozess mit offenem Ausgang im
Gang ist. So kommt, wenn bei einem Rücktritt des Vorstandsvorsitzenden wie hier
eher mit steigenden Kursen zu rechnen ist, selbst bei offenem Ausgang als
Anlageentscheidung in Betracht, Aktien jedenfalls bis zur Entscheidung zu
halten. Schließlich muss ein verständiger Anleger die Insider-Information über
einen bereits existierenden Zwischenschritt nicht nur im Hinblick auf das
inhaltlich angestrebte Ziel und damit die Wahrscheinlichkeit des angestrebten
Ereignisses bei seiner Anlageentscheidung bewerten. Vielmehr kann die
Insider-Information über das angestrebte Ziel auch im Hinblick auf andere
Umstände von Bedeutung und damit kursrelevant sein. So kann gegebenenfalls
bereits aus der Absicht des Vorstandsvorsitzenden, im Einvernehmen mit dem
Aufsichtsrat aus dem Amt zu scheiden, auf seine Amtsmüdigkeit geschlossen werden
und damit darauf, dass er eine bestimmte, mit ihm verknüpfte Geschäftspolitik –
unabhängig von der Dauer seines Verbleibs im Amt – nicht mehr fortführen will.

b) Ob mit einem künftigen Umstand oder einem künftigen
Ereignis verknüpfte, bereits realisierte Zwischenschritte eigenständige präzise
Informationen sind oder die Verknüpfung mit künftigen Umständen oder
Ereignissen die Bewertung der Zwischenschritte als kursrelevante präzise
Informationen sperrt und sie nur für die Wahrscheinlichkeit, ob die künftigen
Umstände oder Ereignisse eintreten, von Bedeutung sind, hängt von der Auslegung
von Art. 1 Abs. 1 Nr. 1 der Richtlinie 2003/6/EG, Art. 1 Abs. 1 und 2 der
Richtlinie 2003/124/EG ab. Art. 1 Abs. 1 Nr. 1 der Richtlinie 2003/6/EG
definiert eine Insider-Information als eine nicht öffentlich bekannte präzise
Information, die direkt oder indirekt einen oder mehrere Emittenten von
Finanzinstrumenten oder ein oder mehrere Finanzinstrumente betrifft und die,
wenn sie öffentlich bekannt würde, geeignet wäre, den Kurs dieser
Finanzinstrumente oder den Kurs sich darauf beziehender derivativer
Finanzinstrumente erheblich zu beeinflussen. Nach Art. 1 Abs. 1 der Richtlinie
2003/124/EG ist eine Information dann als präzise anzusehen, wenn damit eine
Reihe von Umständen gemeint ist, die bereits existieren oder bei denen man mit
hinreichender Wahrscheinlichkeit davon ausgehen kann, dass sie in Zukunft
existieren werden, oder ein Ereignis, das bereits eingetreten ist oder mit
hinreichender Wahrscheinlichkeit in Zukunft eintreten wird, und diese
Information darüber hinaus spezifisch genug ist, dass sie einen Schluss auf
eine mögliche Auswirkung dieser Reihe von Umständen oder dieses Ereignisses auf
die Kurse von Finanzinstrumenten oder damit verbundenen derivativen Finanzinstrumenten
zulässt. Von der Auslegung von Art. 1 Abs. 2 der Richtlinie 2003/124/EG hängt
ab, ob die oben genannte Frage dahingestellt bleiben kann, weil – wie das
Oberlandesgericht meint – ein Zwischenschritt nur dann zur Kursbeeinflussung
geeignet ist, wenn der angestrebte Umstand oder das angestrebte Ereignis
hinreichend wahrscheinlich ist.

3. Die Entscheidung über die Musterrechtsbeschwerde hängt
weiter davon ab, was unter einer hinreichenden Wahrscheinlichkeit nach Art. 1
Abs. 1 der Richtlinie 2003/124/EG zu verstehen ist. 19 a) Das Oberlandesgericht
hat – entsprechend einem rechtlich nicht bindenden Hinweis im Beschluss des
Senats vom 25. Februar 2008 – seiner Entscheidung zugrunde gelegt, dass von dem
künftigen Umstand des Aufsichtsratsbeschlusses, mit dem das Ausscheiden von
Prof. S.… zum Jahresende beschlossen wurde, erst mit hinreichender
Wahrscheinlichkeit im Sinn des § 13 Abs. 1 Satz 3 WpHG (Art. 1 Abs. 1 der
Richtlinie 2003/124/EG) ausgegangen werden konnte, wenn aus der Sicht eines
verständigen Anlegers die Entscheidung des Aufsichtsrats vorabgestimmt sei.
Eine solche Vorabstimmung hat es mit der Sitzung des Präsidialausschusses am
27. Juli 2005 angenommen. Der Senat hat im Beschluss vom 25. Februar 2008
ausgeführt, dass offen bleiben könne, ob mit hinreichender Wahrscheinlichkeit im
Sinne von § 13 Abs. 1 Satz 3 WpHG (Art. 1 Abs. 1 der Richtlinie 2003/124/ EG)
eine hohe oder nur eine überwiegende Wahrscheinlichkeit gefordert werde. Zu dem
einvernehmlichen Ausscheiden war ein Beschluss des Gesamtaufsichtsrats erforderlich
und nach der Geschäftsordnung des Aufsichtsrats durfte bereits auf den Widerspruch
eines Mitglieds hin kein Beschluss zu dem in der Tagesordnung nicht angekündigten
Ausscheiden von Prof. S.… gefasst werden. Daher sei, so der Senat, die
Würdigung des Oberlandesgerichts nicht zu beanstanden, dass offen gewesen sei,
ob der Aufsichtsrat sofort zu einer Entscheidung im Sinn des Vorschlags zum Ausscheiden
von Prof. S.… und der Bestellung von Dr. Z.… als Nachfolger kommen oder sie
vertagen würde. Anders sei dies ggf. bei einer definitiven Vorabstimmung des Aufsichtsratsbeschlusses
zu beurteilen.

b) An dieser an einer Wahrscheinlichkeitsbeurteilung
orientierten Auslegung, die mindestens eine überwiegende Wahrscheinlichkeit
verlangt und zudem im Ergebnis bei Entscheidungen von mit mehreren Personen
besetzten Gremien wie dem Aufsichtsrat hohe Anforderungen an die
Eintrittswahrscheinlichkeit stellt, sind dem Senat aufgrund des Urteils des
Gerichtshofes vom 23. Dezember 2009 in der Rechtssache C-45/08 (Spector Photo
Group NV und Chris Van Raemdonck gegen Commissie voor het Bank-, Financie- en
Assurantiewezen, NZG 2010, 107) Zweifel gekommen. Danach besteht ein enger
Zusammenhang zwischen dem Verbot von Insider-Geschäften und dem Begriff der
Insider-Information in Art. 1 Abs. 1 der Richtlinie 2003/124/EG und damit mit
den Vorteilen, die eine Insider-Information dem Insider verschafft (Rn. 50).
Der Bezug des Begriffs der Insider-Information zu Insidergeschäften spricht
dagegen, für künftige Umstände oder Ereignisse allein auf die überwiegende
Wahrscheinlichkeit ihres Eintretens abzustellen. Auch wenn der Eintritt eines
künftigen Ereignisses offen ist, setzt sich ein Insider unter Umständen
geringeren Marktrisiken aus als ein Anleger, dem noch gar nicht bekannt ist,
dass die Absicht besteht, bestimmte Umstände oder Ereignisse herbeizuführen,
und dass ein Entscheidungsprozess in Gang gesetzt ist. Erst recht gilt dies,
wenn er die inneren Verhältnisse des Emittenten kennt und nach dem bisher
üblichen Verlauf von Entscheidungsprozessen erwarten kann, dass der Umstand
oder das Ereignis in Zukunft eintritt. Solche Informationen nicht schon als
präzise anzusehen, kann dem Zweck des Insider-Handelsverbots widersprechen, zu
verhindern, dass aus einer Information ungerechtfertigt ein Vorteil zum
Nachteil Dritter, denen diese Information unbekannt ist, gezogen wird und
infolgedessen die Integrität der Finanzmärkte sowie das Vertrauen der
Investoren beeinträchtigt werden.

Zweifel bestehen an der Auslegung, dass für eine
Insider-Information eine überwiegende Wahrscheinlichkeit des Eintritts
künftiger Umstände oder eines künftigen Ereignisses erforderlich ist, auch
aufgrund anderer sprachlicher Fassungen von Art. 1 Abs. 1 der Richtlinie
2003/124/EG, die den Begriff der Wahrscheinlichkeit nicht enthalten, wie in
Art. 1 Abs. 1 der Richtlinie 2003/124/EG in der englischen Fassung „a set of
circumstances which … may reasonably be expected to come into existence“ bzw. „an event which has occurred or may
reasonably be expected to do so“) oder in der französischen Fassung „d’un
ensemble de circonstances … dont on peut raisonnablement penser qu’il existera“
bzw. „d’un événement … dont on peut raisonnablement penser qu’il se produira“).

c) Die Auslegung ist für die Entscheidung über die
Musterrechtsbeschwerde erheblich. Liegt eine präzise Information bereits vor,
wenn der Eintritt künftiger Umstände oder Ereignisse offen ist, ohne
unwahrscheinlich zu sein, war eine Insider-Information bereits entstanden, als
Prof. S.… den Aufsichtsratsvorsitzenden K.… über seine Absicht informierte, zum
Jahresende im Einvernehmen mit dem Aufsichtsrat vom Amt des
Vorstandsvorsitzenden zurückzutreten, wenn außerdem festgestellt werden kann,
dass ein verständiger Anleger diese Information wahrscheinlich als Teil der
Grundlage seiner Anlageentscheidung genutzt hätte. Wenn für das Maß der
Wahrscheinlichkeit auf das Ausmaß der Auswirkungen beim Emittenten abzustellen
ist, liegt es angesichts der tatsächlich erheblichen Kursbewegungen nach
Bekanntwerden des Rücktritts von Prof. S.… nahe, ein geringeres Maß der
Wahrscheinlichkeit als die überwiegende Wahrscheinlichkeit genügen zu lassen.

 
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