Beiträge

Wertpapierhandelsgesetz

Börsennotierte  Familienunternehmen: Ad-hoc-Mitteilungspflicht bei zeitlich gestrecktem Vorgang

Prof. Dr. Andreas Wiedemann, Rechtsanwalt

Abs. 1 der Richtlinie 2003/124 / EG nur darauf abzustellen, ob dieser künftige Umstand oder das künftige Ereignis als präzise Information nach diesen Richtlinienbestimmungen anzusehen ist, und demgemäß zu prüfen, ob man mit hinreichender Wahrscheinlichkeit davon ausgehen kann, dass dieser künftige Umstand oder das künftige Ereignis eintreten wird, oder können bei einem solchen zeitlich gestreckten Vorgang auch Zwischenschritte, die bereits existieren oder eingetreten sind und die mit der Verwirklichung des künftigen Umstands oder Ereignisses verknüpft sind, präzise Informationen im Sinn der genannten Richtlinienbestimmungen sein?

b) Verlangt hinreichende Wahrscheinlichkeit im Sinne von Artikel 1 Abs. 1 der Richtlinie 2003/124/ EG eine Wahrscheinlichkeitsbeurteilung mit überwiegender oder hoher Wahrscheinlichkeit, oder ist unter Umständen, bei denen mit hinreichender Wahrscheinlichkeit von ihrer zukünftigen Existenz, oder Ereignissen, die mit hinreichender Wahrscheinlichkeit in Zukunft eintreten werden, zu verstehen, dass das Maß der Wahrscheinlichkeit vom Ausmaß der Auswirkungen auf den Emittenten abhängt und es bei hoher Einigung zur Kursbeeinflussung genügt, wenn der Eintritt des künftigen Umstands oder Ereignisses offen, aber nicht unwahrscheinlich ist?

Problemstellung und praktische Bedeutung

Hat die damalige Daimler-Chrysler AG das Ausscheiden ihres ehemaligen Vorstandsvorsitzenden Jürgen Schrempp zu spät ad hoc gemeldet?

Diese Frage beschäftigt nunmehr nach einem entsprechenden Vorlagebeschluss des BGH den Europäischen Gerichtshof (EuGH). Die vom EuGH abstrakt zu prüfenden Fragen haben dabei, wie auch der dem Vorlagebeschluss konkret zugrunde liegende Sachverhalt, für börsennotierte Familienunternehmen eine erhebliche praktische Bedeutung. So obliegt sämtlichen börsennotierten Unternehmen, (abgestellt wird insoweit auf eine Notierung in einem organisierten Markt, eine Einbeziehung in den Freiverkehr genügt hierfür nicht) Insiderinformationen, die das Unternehmen unmittelbar betreffen, unverzüglich zu veröffentlichen (vgl. § 15 Abs. 1 WpHG). Insiderinformationen sind gemäß § 13 Abs. 1 Satz 1 WpHG konkrete Informationen über nicht öffentlich bekannte Umstände, die sich auf einen oder mehrere Emittenten von Insiderpapieren, also bspw. börsennotierte Aktien oder Schuldverschreibungen, die an einer inländischen Börse zum Handel zugelassen sind, oder auf die Insiderpapiere selbst beziehen und die geeignet sind, im Falle ihres öffentlichen Bekanntwerdens den Börsen- oder Marktpreis der Insiderpapiere erheblich zu beeinflussen. Eine solche Eignung ist gegeben, wenn ein verständiger Anleger die Information bei seiner Anlageentscheidung berücksichtigen würde (§ 13 Abs. 1 Satz 2 WpHG). Als Umstände i.d.S. gelten auch solche, bei denen mit hinreichender Wahrscheinlichkeit davon ausgegangen werden kann, dass sie in Zukunft eintreten werden (§ 13 Abs. 1 Satz 3 WpHG).

Gerade börsennotierte Familien- unternehmen sind häufig dadurch gekennzeichnet, dass Vertreter der Unternehmerfamilie in den Organen des Unternehmens vertreten sind. Zeichnet sich dann ein Ausscheiden dieser Person aus Vorstand oder Aufsichtsrat ab, so stellt sich regelmäßig die Frage, ob und ggf. wann dies eine Ad-hoc-Mitteilung nach sich zieht. Die Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht (BaFin) geht in ihrem Emittentenleitfaden davon aus, dass Veränderungen in den Organen eine Publizitätspflichtige Insiderinformation darstellen können (vgl. dazu S. 62 des Emittentenleitfadens der BaFin). Dies wird bei börsennotierten Familienunternehmen in aller Regel zumindest dann der Fall sein, wenn das das börsennotierte Familienunternehmen führende Vorstandsmitglied, das gleichzeitig den Hauptaktionär repräsentiert, aus dem Vorstand ausscheidet. In derartigen Fallkonstellationen stellt sich dabei nicht nur die Frage, ob eine Ad-hoc- Publizitätspflicht überhaupt eröffnet ist, sondern vor allem auch, zu welchem Zeitpunkt diese greift.

Entscheidungsgründe und weitere Hinweise

Hintergrund für den Vorlagebeschluss des BGH war eine Musterrechtsbeschwerde, die mehrere (ehemalige) Aktionäre der damaligen Daimler- Chrysler AG gegen einen Musterentscheid des OLG Stuttgart im Zusammenhang mit der Geltendmachung von Schadenersatzansprüchen wegen einer verspäteten Ad-hoc-Mitteilung gegen die damalige Daimler-Chrysler AG wegen des vorzeitigen Ausscheidens des Vorstandsvorsitzenden Jürgen Schrempp geltend gemacht hatten. Das OLG Stuttgart hat auch in seiner zweiten Entscheidung – die erste Entscheidung eines anderen Senats des OLG Stuttgart wurde durch den BGH aufgehoben und zur Durchführung einer Beweisaufnahme zurückgewiesen – eine Insiderinformation erst zu dem Zeitpunkt angenommen, ab dem mit hinreichender Wahrscheinlichkeit davon ausgegangen werden konnte, das das zukünftige Ereignis, also das einvernehmliche Ausscheiden des Vorstandsvorsitzenden, eintreten werde. Dies sah das OLG Stuttgart mit der Beschlussfassung des Präsidialausschusses des Aufsichtsrates der damaligen Daimler- Chrysler AG, die einen Tag vor der Aufsichtsratssitzung und der Ad-hoc- Mitteilung stattfand, gegeben. Das OLG Stuttgart ging weiter davon aus, dass die Daimler-Chrysler AG berechtigt war, die Ad-hoc-Mitteilung um einen Tag zu verschieben, weil die Voraussetzung einer Selbstbefreiung vorgelegen hätte, obwohl es hierzu keine bewusste Entscheidung durch den Vorstand der Daimler-Chrysler AG gegeben hatte.

Demgegenüber hatte das OLG Frankfurt im parallelen Bußgeldverfahren das von der BaFin verhängte Bußgeld in Höhe von ` 200.000,00 für rechtmäßig erkannt und somit den Zeitpunkt der Ad-hoc-Publizitätspflicht deutlich früher gesehen.

Im Zentrum dieser juristischen Auseinandersetzung steht die Frage, ob bei einem gestreckten Vorgang bzw. zukunftsbezogenen Sachverhalten eine – publizitätspflichtige – Insiderinformation bereits dann vorliegen kann, wenn Zwischenschritte zur Erreichung des angestrebten Ereignisse verwirklicht sind oder erst dann, wenn der Eintritt des angestrebten Ereignisses hinreichend wahrscheinlich ist.

Nach Ansicht des BGH kommt es zur Klärung dieser Rechtsfrage darauf an, wie die beiden dem § 13 WpHG zugrunde liegenden Artikel der relevanten Richtlinien (Art. 1 I der Marktmißbrauchsrichtlinie 2003/6/EG und Art. 1 I und II der Durchführungsrichtlinie 2003/124/EG) auszulegen sind. Der BGH lässt in seinem Vorlagebeschluss klar erkennen, dass es nicht zwingend für die Kursrelevanz eines bereits eingetretenen Umstandes darauf ankommt, ob ein damit verknüpfter zukünftiger Umstand hinreichend wahrscheinlich eintritt, sondern vielmehr darauf abzustellen ist, ob ein verständiger Anleger die Information (also den Teilschritt) selbst berücksichtigen oder wahrscheinlich als Teil seiner Anlageentscheidung nutzen würde. Das Kriterium der „Kursrelevanz“ tritt demnach auch bei mehrstufigen Entscheidungsprozessen selbständig in den Vordergrund; die Frage der hinreichenden Eintrittswahrscheinlichkeit dagegen in den Hintergrund.

Der EuGH muss als zweite Frage klären, ob für eine Publizitätspflicht eine „überwiegende“ oder sogar eine „hohe“ Wahrscheinlichkeit erforderlich ist oder ob das Maß der Wahrscheinlichkeit vom Ausmaß der Auswirkungen auf den Emittenten abhängt und es somit bei hoher Eignung zur Kursbeeinflussung auch genügen kann, wenn der Eintritt des zukünftigen Ereignisses zwar offen, aber zumindest nicht unwahrscheinlich ist. Der BGH führt insoweit aus, dass zwar einerseits die Eintrittswahrscheinlichkeit eines Ereignisses für einen verständigen Anleger bei seiner Anlageentscheidung von besonderer Bedeutung sei, andererseits aber auch Entscheidungsprozesse mit offenem Ausgang für den Anleger bei seiner Entscheidung über den Kauf oder Verkauf von Wertpapieren relevant sein können. Mit anderen Worten: Der BGH korrigiert seine bisherige Rechtsprechung, in der er eine hinreichende Wahrscheinlichkeit für erforderlich gehalten hat (vgl. BGH, NZG 2008, 300) und hält nun offenbar auch eine Eintrittserwartung von unter 50 % für möglicherweise ausreichend. Zweifel an seiner bisherigen Rechtsprechung sind dem BGH vor dem Hintergrund einer Entscheidung des EuGH aus dem Jahre 2009 gekommen, die sich mit dem engen Zusammenhang zwischen dem Verbot von Insidergeschäften und dem Begriff der Insiderinformation und damit mit den Vorteilen befasst, die eine Insiderinformation dem Insider verschaffen kann (vgl. EuGH, NZG 2010, 107). Diese Zweifel sieht der BGH auch in der englischen und französischen Fassung der rele- vanten Richtlinie begründet.

Die Entscheidung des EuGH wird sicherlich einige Zeit auf sich warten lassen. Trotzdem dürfte der Vorlagebeschluss des BGH unmittelbare praktische Folgen für die börsennotierten Unternehmen haben. Die Tendenz geht eindeutig dahin, dass bereits einzelne Zwischenschritte für sich genommen als publizitätspflichtige Insiderinformationen anerkannt werden müssen. Ferner zeichnet sich klar ab, dass das Kriterium der „überwiegenden“ oder „hohen“ Wahrscheinlichkeit von dem Kriterium des Ausmaßes der Auswirkungen auf den Emittenten überlagert wird, sofern eine erhebliche Eignung zur Kursbeeinflussung vorliegt. Börsennotierten Unternehmen ist demnach vor dem Hintergrund der Schadenersatzregelungen und dem Bußgeldrisiko zu empfehlen, mit der Thematik der Ad- hoc-Publizität zukünftig noch sensibler umzugehen. Dabei wird das Instrument der Selbstbefreiung an Bedeutung gewinnen. Insofern ist es zu bedauern, dass der BGH hierzu nicht dezidiert Stellung genommen hat und insbesondere die Frage offen geblieben ist, ob das OGB Stuttgart festgestellt hat – der Selbstbefreiungstatbestand des § 15 Abs. 3 WpHG kraft Gesetzes eintreten kann. Dies steht im Widerspruch zur bisherigen Praxis der BaFin (vgl. dazu Emittentenleitfaden der BaFin, S. 65). Auch insoweit ist also Vorsicht geboten. Börsennotierte Unternehmen, die von der Selbstbefreiung Gebrauch machen, sollten eine bewusste und dokumentierte Entscheidung hierüber herbeiführen.