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Handelsrecht, Gesellschaftsrecht

Aufgabe des Bestimmtheitsgrundsatzes im Personengesellschaftsrecht – erweiterte Gestaltungsfreiheit bei Mehrheitsklauseln in Gesellschaftsverträgen

Dr. Sebastian von Thunen, LL.M., Rechtsanwalt

  1. Die Gesellschafter können im Gesellschaftsvertrag einer Personengesellschaft festlegen, dass Gesellschafterbeschlüsse nicht einstimmig, sondern mit einfacher oder qualifizierter Mehrheit gefasst
  2. Es reicht aus, wenn dem Gesellschaftsvertrag nach allgemeinen Auslegungsgrundsätzen zu entnehmen ist, dass für den Beschlussgegenstand eine Mehrheitsentscheidung genügen soll (formelle Legitimation, Stufe 1). Der frühere sogenannte Bestimmtheitsgrundsatz gilt hierfür  nicht
  3. Allgemeine Mehrheitsklauseln können sich deshalb auch auf Grundlagen- oder ungewöhnliche Geschäfte der Gesellschaft
  4. Liegt eine derartige formelle Grundlage für einen Mehrheitsbeschluss vor, so ist in einem weiteren Prüfungsschritt (materielle Legitimation, Stufe 2) zu prüfen, ob die Mehrheitsentscheidung als solche im Einzelfall inhaltlich wirksam ist. Das ist nicht der Fall, wenn sie sich als treupflichtwidrige Ausübung der Mehrheitsmacht gegenüber der Minderheit (Leitsätze des Verfassers)

 

I. Hintergrund

Die Gesellschaftsverträge von Familienunternehmen, die als Personengesellschaft (OHG, KG, GmbH & Co. KG) organisiert sind, enthalten oft umfangreiche Kataloge, in denen en détail die Beschlussgegenstände aufgeführt sind, über die die Gesellschafterversammlung mit Mehrheitsbeschluss entscheiden kann. Die Beratungspraxis hat derart ausführliche Kataloge in Reaktion auf die vormals von der höchstrichterlichen Rechtsprechung angenommene Geltung des sogenannten Bestimmtheitsgrundsatzes eingeführt.

Danach konnten die Gesellschafter von Personengesellschaften zwar vom eigentlich kraft Gesetzes geltenden, jedoch unpraktikablen Einstimmigkeitsprinzip für Gesellschafterbeschlüsse abweichen, indem sie im Gesellschaftsvertrag Regelungen zu Mehrheitsentscheidungen aufnahmen. Sofern jedoch im Gesellschaftsvertrag nur allgemein vorgesehen war, dass für Gesellschafterbeschlüsse die einfache Stimmenmehrheit genügen sollte, galt diese Bestimmung nach herkömmlichen Verständnis nur für Geschäftsführungsfragen und laufende Angelegenheiten. Erstreckte sich die Mehrheitskompetenz auch (ausdrücklich) auf Änderungen des Gesellschaftsvertrages, so wurden davon nur Beschlüsse über gewöhnliche Vertragsänderungen erfasst. Ein Gesellschafterbeschluss ungewöhnlicher Art war demgegenüber selbst dann, wenn der Gesellschaftsvertrag Vertragsänderungen durch Mehrheitsbeschluss zuließ, nur wirksam, wenn der Beschlussgegenstand sich unzweideutig – d.h. hinreichend bestimmt – aus dem Gesellschaftsvertrag ergab (Ebenroth/Boujong/Joost/Strohn,  HGB, 3. Aufl. 2014, § 109, Rn. 18 m.w.N. aus der Rechtsprechung).

Das Erfordernis, im Gesellschaftsvertrag ausdrücklich festzuschreiben, welche ungewöhnlichen Gesellschafterbeschlüsse mit Mehrheit (statt einstimmig) getroffen werden können, sollte dem Minderheitenschutz dienen, indem für den einzelnen Gesellschafter zumindest erkennbar war, welche Entscheidungen die Gesellschaftermehrheit ohne seine Stimmen treffen konnte. Als Instrument des Minderheitenschutzes wurde der Bestimmtheitsgrundsatz jedoch in der jüngeren rechtswissenschaftlichen Diskussion zunehmend in Zweifel gezogen, weil die extensive Auflistung von Beschlussgegenständen, die der Mehrheitsentscheidung unterworfen sind, im Gesellschaftsvertrag für den einzelnen von der jeweiligen Maßnahme betroffenen Gesellschafter im konkreten Fall als bloß formalabstrakte Regel keinen wirksamen Schutz bietet, andererseits aber die – grundsätzlich sinnvolle und praktikable Möglichkeit, statt des gesetzlichen Einstimmigkeitsprinzips im Personengesellschaftsvertrag Mehrheitsentscheidungen zuzulassen, mit unnötiger Rechtsunsicherheit belastet (Vgl. Schäfer, NZG 2014, 1401 m.w.N.). Auch der BGH war bereits in zwei jüngeren Entscheidungen (BGHZ 170, 283 – „Otto“; BGHZ 179, 13 – „Schutzgemeinschaftsvertrag  II“) von dem so verstandenen Bestimmtheitsgrundsatz abgerückt: Das Verständnis, eine Mehrheitsklausel müsse stets die betroffenen Beschlussgegenstände minutiös auflisten, denaturiere den Bestimmtheitsgrundsatz zu einer Förmelei. Es genüge vielmehr, wenn sich aus dem Gesellschaftsvertrag – sei es auch durch dessen Auslegung – eindeutig ergebe, dass der in Frage stehende Beschlussgegenstand einer Mehrheitsentscheidung unterworfen sein solle.

Sodann sei in einem zweiten Schritt zu prüfen, ob der Mehrheitsbeschluss als solcher inhaltlich wirksam sei.

Diese Rechtsprechung führt der BGH in dem vorliegenden Urteil konsequent fort und gibt dabei nunmehr den Bestimmtheitsgrundsatz ausdrücklich auf.

II. Zum Sachverhalt

Der Kläger war Minderheits-Kommanditist einer GmbH & Co. KG. Er klagte auf Feststellung der Nichtigkeit von Gesellschafterbeschlüssen, mit denen der Übertragung u.a. seines Kommanditanteils auf eine Stiftung zugestimmt worden war. Dabei waren die Beschlüsse mit den Stimmen der übrigen Kommanditisten mit einfacher Mehrheit gefasst worden. Diese hatten sich dabei auf eine Klausel im Gesellschaftsvertrag gestützt, die allgemein und ohne Einschränkung auf bestimmte Beschlussgegenstände Beschlussfassungen mit einfacher Mehrheit zuließ. Der Kläger war der Ansicht, die Beschlüsse seien nichtig, weil die Reichweite allgemeiner Mehrheitsklauseln durch den Bestimmtheitsgrundsatz auf gewöhnliche Beschlussgegenstände beschränkt sei. Die Zustimmung zur Anteilsübertragung sei davon nicht umfasst. Diese hätte als ungewöhnliche Maßnahme ausdrückliche Erwähnung in der Mehrheitsklausel finden müssen.

Dieser einigermaßen kuriose Sachverhalt wird nur erklärlich, wenn man weiß, dass u.a. der Kläger mit den Mehrheitsgesellschaftern in einem schädigungslos auf eine Stiftung übertragen zu müssen.

III. Entscheidungsgründe

Der BGH verdeutlicht zunächst nochmals seinen in der jüngeren Rechtsprechung bereits angelegten zweistufigen Prüfungsansatz für die Zulässigkeit von Mehrheitsbeschlüssen in Personengesellschaften: Danach ist auf der ersten Stufe wertneutral die formelle Legitimation für eine Mehrheitsbeschlussfassung zu prüfen. Diese ist schon dann gegeben, wenn die Auslegung des Gesellschaftsvertrages ergibt, dass der betreffende Beschlussgegenstand einer Mehrheitsentscheidung unterworfen sein soll. Erst auf einer zweiten Stufe wird die materielle (inhaltliche) Wirksamkeit des Beschlusses unter individual- und minderheitsschützen- den Gesichtspunkten geprüft.

Dabei hält der BGH fest, dass die Prüfung auf der ersten Stufe (formelle Legitimation) allein nach allgemeinen Auslegungsgrundsätzen zu erfolgen hat. Der Gesellschaftsvertrag ist also dahingehend auszulegen, ob eine Mehrheitsklausel nach dem Willen der Gesellschafter auch den in Frage stehenden Beschlussgegenstand erfassen sollte. Das gilt allgemein für alle Beschlussgegenstände, auch für sogenannte „Grundlagengeschäfte“ oder Maßnahmen, die in den sog. „Kernbereich“ der Mitgliedschaftsrechte bzw. in absolut oder relativ unentziehbare Rechte der Minderheit eingreifen. Dabei kommt dem früheren Bestimmtheitsgrundsatz laut BGH keine Bedeutung mehr zu. Es bedarf also keinesfalls mehr einer ausdrücklichen Spezifizierung tauglicher Mehrheitsbeschlüsse im Gesellschaftsvertrag, die so eindeutig ist, dass über ihren Wortlaut hinaus keine Auslegung möglich ist. Insbesondere ist es nicht mehr erforderlich, dass ungewöhnliche Geschäfte explizit in Mehrheitsklauseln  erwähnt werden.

Der Schutz von Minderheitsgesellschaftern  bei Mehrheitsbeschlüssenwird vielmehr stets dadurch bewirkt, dass auf der zweiten Prüfungsstufe der jeweilige Mehrheitsbeschluss im Einzelfall inhaltlich daraufhin untersucht wird, ob die Mehrheit gesellschafterliche Treuepflichten gegenüber der Minderheit verletzt hat, indem sie den konkreten Beschluss gefasst hat. Der BGH unterwirft nun- mehr alle Beschlussgegenstände, also auch sog. „Grundlagengeschäfte“ und Maßnahmen, die in den sog. „Kernbereich“ der Mitgliedschaftsrechte eingreifen, dieser zweiten Prüfungsstufe, die im Ergebnis auf eine Interessensabwägung hinauslaufen dürfte.

Dabei ist zusätzlich zu vermerken, dass der BGH von der früher gebräuchlichen Begrifflichkeit „Kernbereich“ abrückt und – wie in der gesamten jüngeren Rechtsprechung zum Themenkreis – stattdessen von „absolut unverzichtbaren“ oder „relativ unentziehbaren Rechten“ spricht. Werde in derartige Rechte eines Gesellschafters durch Mehrheitsbeschluss eingegriffen, habe dies nunmehr lediglich die Bedeutung, dass regelmäßig eine treuepflichtwidrige Ausübung der Mehrheitsmacht indiziert sei. Das ist praktisch vor allem für die Beweislastverteilung relevant: Der Minderheitsgesellschafter muss bei festgestellten Eingriffen in derartige Rechte nicht mehr, wie in den sonstigen Fällen, den Nachweis einer treupflichtwidrigen Mehrheitsentscheidung führen. Hier bietet das Urteil durchaus Anlass zur Kritik, da sich der Kernbereichsschutz, der systematisch bisher eine eigene Prüfungskategorie gebildet hatte und stärker an der Mitgliedschaft des einzelnen Gesellschafters ansetzte, nicht ohne Weiteres unter die gesellschafterliche Treuepflicht fassen lässt. (Hier näher Schäfer, NZG 2014, 1401, 1403). Im konkreten Fall war dies aber nicht entscheidungserheblich.

Hier kommt der BGH zu dem Ergebnis, dass die Zustimmungsbeschlüsse zu der Anteilsübertragung zwar ein Grundlagengeschäft betrafen, allerdings mangels (Fort-) Geltung des Bestimmtheitsgrundsatzes aufgrund der allgemeinen Mehrheitsklausel mit einfacher Mehrheit entschieden werden konnten. Im Rahmen der materiellen Prüfung auf der zweiten Stufe stellt der BGH ebenfalls keine Mängel der Beschlüsse fest: Eine Verletzung der Treuepflicht der Mehrheitsgesellschafter läge nicht vor, da eine Beeinträchtigung der Minderheitsgesellschafter bei Wahrnehmung ihrer Rechte durch den Zustimmungsbeschluss zur Anteilsübertragung nicht ersichtlich sei.

IV. Folgen für die Praxis

Der sogenannte Bestimmtheitsgrundsatz und mit ihm wohl auch die sogenannte „Kernbereichslehre“ in ihrer bisherigen systematischen Ausgestaltung sind endgültig Rechtsgeschichte. Die bisher übliche extensive und minutiöse Auflistung einzelner Beschlussgegenstände, die die Gesellschafterversammlung mit einfacher Mehrheit treffen kann, in Personengesellschaftsverträgen ist somit obsolet.

Es genügt, dass der Gesellschaftsvertrag eine ausdrückliche Mehrheitsklausel enthält, der zumindest im Wege der Auslegung zu entnehmen ist, dass sie anstelle des sonst gelten- den Einstimmigkeitsprinzips auch den jeweils infrage stehenden Beschlussgegenstand erfassen soll. Um eine derartige Auslegung zu gewährleisten, sollten Gesellschaftsverträge statt der bisher üblichen ausführlichen Kataloge von Beschlussgegenständen zumindest generell festhalten, ob bzw. dass Mehrheitsklauseln (auch) für Gesellschaftsvertragsänderungen und (sonstige) Grundlagenentscheidungen, seien sie gewöhnlich oder außergewöhnlich, gelten sollen. Damit ist insoweit ein Zugewinn an Rechtssicherheit verbunden, als nicht mehr das Risiko besteht, dass ein Gegenstand, über den später eine mehrheitliche Beschlussfassung möglich sein soll, bei Erstellung des Gesellschaftsvertrages noch gar nicht bedacht werden konnte.

Auch für die betroffenen Minderheitsgesellschafter dürfte sich die Rechtsprechungslinie, deren vorläufigen Schlusspunkt das Urteil bildet, in vielen Fällen Zugewinn an Rechtsschutz darstellen, weil der BGH Mehrheitsentscheidungen ausdrücklich einer Inhaltskontrolle im Einzelfall anhand der gesellschafterlichen Treuepflicht unterwirft, anstatt wie früher abstrakt – terminologisch darauf abzustellen, ob der jeweilige Beschlussgegenstand bestimmt genug im Gesellschaftsvertrag der Mehrheitsentscheidung unterworfen wurde. So sind Minderheitsgesellschafter auch künftig nicht der Willkür der Mehrheit ausgeliefert.

Von der weiteren Entwicklung der Rechtsprechung wird allerdings abhängen, inwieweit die früher sogenannte „Kernbereichslehre“ – ggf. unter anderem Namen und systematisch anders verortet – auch weiterhin eine Rolle zum Minderheitenschutz spielen wird (Dafür: Priester, EWiR 2015, 71, 72; Schäfer, NZG 2014, 1401, 1404). Im praktischen Ergebnis dürfte sich insoweit aber durch das vorliegende Urteil zunächst nichts geändert haben.

Abschließend bleibt noch darauf hinzuweisen, dass zumindest einzelne grundlegende oder ungewöhnliche Maßnahmen, für die vormals der sogenannte Bestimmtheitsgrundsatz galt, in aller Regel für die Gesellschafter insgesamt ohnehin so bedeutsam sind, dass der Gesellschaftsvertrag für sie jeweils besonders qualifizierte Mehrheitserfordernisse vorsehen sollte. Hätte beispielsweise der Gesellschaftsvertrag im Urteilssachverhalt ausdrücklich vorgesehen, dass die Zustimmung der Gesellschafterversammlung zur Verfügung über Gesellschaftsanteile nur mit einer qualifizierten Mehrheit von z.B. 80 % der vorhandenen Stimmen erteilt werden kann, hätte sich die strittige Frage, ob ein entsprechender Beschluss einstimmig oder mit Mehrheit zu fassen ist, von vorneherein nicht gestellt.