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Handelsgesetz

Arbeitnehmer im Aufsichtsrat: Ausweitung oder Ende des deutschen Mitbestimmungsrechts?

Dr. Thomas Frohnmayer, Christian Klein-Wiele, Rechtsanwälte, Stuttgart

  1. Dem Gerichtshof der Europäischen Union wird gemäß 267 AEUV folgende Frage zur Vorabentscheidung vorgelegt: Ist es mit Art. 18 AEUV (Diskriminierungsverbot) und Art. 45 AEUV (Freizügigkeit der Arbeitnehmer) vereinbar, dass ein Mitgliedstaat das aktive und passive Wahlrecht für die Vertreter der Arbeitnehmer in das Aufsichtsorgan eines Unternehmens nur solchen Arbeitnehmern eingeräumt [hat], die in Betrieben des Unternehmens oder in Konzernunternehmen im Inland beschäftigt sind?
  2. Der Senat hält es für vorstellbar, dass Arbeitnehmer durch die deutschen Mitbestimmungsregelungen aus Gründen der Staatsangehörigkeit diskriminiert werden. Der Senat sieht es ferner als vorstellbar an, dass die Freizügigkeit der Arbeitnehmer durch die deutschen Mitbestimmungsregelungen verletzt ist. (Leitsätze der Bearbeiter).

I. Problemstellung

Das deutsche Mitbestimmungsrecht steht am Scheideweg. Das Kammergericht Berlin hält es für möglich, dass Teile der deutschen Mitbestimmungsgesetze gegen europäisches Recht verstoßen und hat diese daher dem Europäischen Gerichtshof zur Prüfung vorgelegt. Die weitere Entwicklung in der Rechtsprechung ist kaum vorhersehbar und könnte sowohl zu einer enormen Ausweitung der unternehmerischen Mitbestimmung auf bislang mitbestimmungsfreie Familienunternehmen als auch zu einer Nichtanwendbarkeit der deutschen Mitbestimmungsgesetze bei der Besetzung von Aufsichtsräten führen.

Um diesen scheinbaren Widerspruch zu verstehen, ist zunächst der Hintergrund des in der Praxis angewandten Mitbestimmungsrechts in Deutschland zu skizzieren:

Die wichtigsten Vorschriften zur Mitbestimmung in Deutschland finden sich im Gesetz über die Drittelbeteiligung der Arbeitnehmer im Aufsichtsrat (DrittelbG) und im Gesetz über die Mitbestimmung der Arbeitnehmer (MitbestG). Der Drittelbeteiligung unterliegen gemäß § 1 Abs. 1 DrittelbG Kapitalgesellschaften mit in der Regel mehr als 500 Arbeitnehmern. Eine Zurechnung von Arbeitnehmern von Konzernunternehmen findet nach § 2 Abs. 2 DrittelbG nur dann statt, wenn zwischen den Unternehmen ein Beherrschungsvertrag besteht oder das abhängige Unternehmen in das herrschende Unternehmen eingegliedert ist.

Bei Überschreitung der Schwelle von 2.000 Arbeitnehmern greift die paritätische Mitbestimmung nach § 1 Abs. 1 MitbestG. Eine Zurechnung findet für Konzernunternehmen nach § 5 MitbestG auch ohne Beherrschungsvertrag statt.

Ein drittelparitätisch zu bildender Aufsichtsrat ist zu einem Drittel mit Arbeitnehmervertretern zu besetzen, ein paritätischer zur Hälfte. Die absolute Größe eines paritätisch besetzten Aufsichtsrats hängt nach § 7 Mit- bestG von der Anzahl der Arbeitnehmer ab. Wahlberechtigt sind jeweils die Arbeitnehmer des Unternehmens.

Der Erlass des MitbestG 1976 führte vor Jahrzehnten bereits zu einer kontroversen politischen und rechtlichen Debatte. Das Bundesverfassungsgericht verneinte schließlich einen Verstoß gegen die Eigentumsgarantie des Art. 14 GG und andere Grundrechte. Danach wurde es lange Jahre um die grundsätzlichen Eckpfeiler der unternehmerischen Mitbestimmung ruhiger.

Nun steht das deutsche Mitbestimmungsrecht erneut auf dem Prüfstand. In jüngerer Vergangenheit mehrten sich in der Literatur Stimmen, die die geltende Praxis des deutschen Mitbestimmungsrechts für mit dem europäischen Recht unvereinbar halten. Eine vorgeschlagene Lösung ist, die deutschen Mitbestimmungsgesetze europarechtskonform auszulegen, eine andere, Teile der Mitbestimmung wegen ihrer Europarechtswidrigkeit bis zu einer Neuregelung durch den Gesetzgeber nicht mehr anzuwenden.

In der rechtlichen Beurteilung ist indes im Einzelnen sauber zu differenzieren.

Die aus der Sicht des Familienunternehmers wichtigste Frage ist, ob Arbeitnehmer ausländischer Tochtergesellschaften mitbestimmungsrechtlich zur Ermittlung der Schwellenwerte (500 bzw. 2.000 Mitarbeiter) für die unternehmerische Mitbestimmung mitzuzählen sind. Der Wortlaut der Mitbestimmungsgesetze ist nicht eindeutig. Die Praxis orientierte sich in den vergangenen Jahrzehnten bei der Gesetzesauslegung an der Gesetzesbegründung und dem sog. „Territorialitätsprinzip“. Nach diesem Prinzip darf die deutsche Sozialordnung sich nicht auf das Hoheitsgebiet anderer Staaten erstrecken. Danach war lange Zeit weitgehend unbestritten, dass die Zahl der Arbeitnehmer mitbestimmungsrechtlich allein nach den in Deutschland beschäftigten Mitarbeitern zu bestimmen ist. Dieser bis heute herrschenden Ansicht (vgl. die Nachweise bei KG Berlin, Beschl. v. 16.10.2015, 14 W 89/15; ausführlich zur Europa- rechtskonformität in diesem Zusammenhang Hellwig/ Behme, AG 2009, 261, 276 f.) widersprach vor Kurzem das Landgericht Frankfurt am Main. Nach dessen Entscheidung sollen bei der Ermittlung der für die Anwendung der Regeln über die Unternehmensmitbestimmung maßgeblichen Unternehmensgröße die im Ausland beschäftigten Mitarbeiter, insbesondere auch die ausländischer Konzernunternehmen, mit zu berücksichtigen sein (LG Frankfurt/M., v. 16.2.2015, 3-16 O 1/14.). Diese Entscheidung wird derzeit vom Oberlandesgericht Frankfurt überprüft und ist daher noch nicht rechtskräftig. Wenn sich das Landgericht Frankfurt mit dieser Auffassung durchsetzt, hätte dies eine enorme Ausweitung der unternehmerischen Mitbestimmung zur Folge: Bislang mitbestimmungsfreie Familienunternehmen könnten unter Einbeziehung der Arbeitnehmer in ausländischen Betrieben der drittelparitätischen oder sogar der paritätischen Mitbestimmung unterliegen. Bislang nur drittelparitätisch besetzte Aufsichtsräte könnten paritätisch zu absolute Größe zahlreicher Aufsichtsräte steigen.

Mit der Ermittlung der Zahl der Arbeitnehmer verbunden, aber nicht notwendigerweise einheitlich zu beurteilen (Ausführlich Krause, ZIP 2015, 636, 637 (Fn. 16).), ist die Frage, ob Arbeitnehmern ausländischer Betriebe ein Wahlrecht bei den Aufsichtsratswahlen der Arbeitnehmerseite zusteht.

Wie bei der Ermittlung der Zahl der Arbeitnehmer war aufgrund der Gesetzesbegründung und des Territorialitätsprinzips lange Jahre unumstritten, dass sich das aktive und passive mitbestimmungsrechtliche Wahlrecht allein auf die in Deutschland beschäftigten Arbeitnehmer bezieht.

Dies wurde vom Schrifttum in den letzten Jahren zunehmend bezweifelt. Danach sollen in der Beschränkung des Wahlrechts auf im Inland beschäftigte Arbeitnehmer sowohl ein Verstoß gegen das allgemeine Diskriminierungsverbot nach Art. 18 AEUV als auch eine nicht gerechtfertigte Beschränkung der Arbeitnehmerfreizügigkeit nach Art. 45 AEUV vorliegen (Ausführlich Henssler, in: Ulmer/Habersack/Henssler, Mitbestimmungsrecht, 3. Aufl. 2013, § 3 MitbestG Rn. 43ff.). Im Gegensatz zur Frage des Nichtmitzählens von Auslandsbelegschaften bei den Schwellenwerten für die Anwendbarkeit der deutschen Mitbestimmungsgesetze ist die Nichtberücksichtigung von Arbeitnehmern ausländischer Betriebe beim Wahlrecht nach herrschender Literaturauffassung also europarechtswidrig. Die in den letzten Jahren hierzu ergangene Rechtsprechung ist uneinheitlich. Das Landgericht Landau/Pfalz (LG Landau, Beschl. v. 18.9.2013, HKO 27/13)  und das Landgericht München I (LG München I, Beschl. v. 27.8.2015, HKO 20285/14.) verneinten einen Europarechtsverstoß, da der deutsche Gesetzgeber keine Regelungen für Wahlen durch Arbeitnehmer im EU-Ausland erlassen könne. Ähnlich sah es das Landgericht Berlin (LG Berlin, Beschl. v. 1.8.2015, 102 O 65/14.), während das OLG Zweibrücken (OLG Zweibrücken, Beschl. v. 22.2.2014, 3 W 150/13)  davon ausgeht, dass die bestehenden deutschen Mitbestimmungsgesetze europarechtskonform so ausgelegt werden können, dass Arbeitnehmer im EU-Ausland aktiv und passiv wahlberechtigt sind.

II.  Sachverhalt

Dem Beschluss des Kammergerichts Berlin liegt wie den anderen angeführten Entscheidungen ein sog. „Statusverfahren“ nach § 98 AktG zugrunde. Danach kann bei einem Streit, nach welchen gesetzlichen Vorschriften der Aufsichtsrat zusammenzusetzen ist, eine gerichtliche Entscheidung herbeigeführt werden. Diesen Antrag kann u.a. jeder Aktionär stellen (vgl. § 98 Abs. 2 AktG). Antragsgegnerin im Verfahren vor dem Berliner Kammergericht ist die TUI AG. Diese beschäftigt in Deutschland ca. 10.103 Arbeitnehmer und in den Mitgliedstaaten der europäischen Union ca. 39.536 Arbeitnehmer. Der Aufsichtsrat der TUI AG hat 20 Mitglieder, von denen 10 durch die Arbeitnehmer zu bestimmen sind. Bei den Wahlen zum Aufsichtsrat waren die Arbeitnehmer ausländischer Betriebe entsprechend der gängigen Praxis bislang nicht einbezogen worden. Hervorzuheben ist, dass der Antragsteller nicht – wie teilweise in der Presse suggeriert wurde (Vgl. FAZ v. 26.10.2015 (Nr. 248), Seite 17)  – beantragt hat, dass Ausländer in den Aufsichtsrat gewählt werden dürfen. Vielmehr begehrt der Antragsteller die Mitbestimmungsfreiheit des Aufsichtsrats der TUI AG.

III.   Entscheidungsgründe

Das Kammergericht Berlin hat das Statusverfahren nach § 98 AktG zunächst ausgesetzt und den Europäischen Gerichtshof angerufen. Dieser soll in einem sog. „Vorlageverfahren“ nach Art. 267 AEUV die Frage der Europarechtswidrigkeit des fehlenden Wahlrechts von Mitarbeitern ausländischer Betriebe deutscher Konzerne klären. In seiner Begründung geht das Gericht zunächst aufgrund des deutschen Territorialitätsprinzips und unter Berufung auf die Gesetzesbegründung mit der herrschenden Meinung davon aus, dass als Arbeitnehmer im Sinne des Mitbestimmungsrechts nur Mitarbeiter deutscher Betriebe mitzuzählen sind. Daraus leitet es im Folgenden ab, dass auch nur diese Arbeitnehmer die Aufsichtsratsmitglieder wählen und selbst im Wahlverfahren Rechte haben können. Nach Ansicht des Kammergerichts ist dadurch ein Verstoß gegen Unionsrecht möglich. Zum einen könnten Arbeitnehmer durch die deutschen Mitbestimmungsregelungen aus Gründen der Staatsangehörigkeit diskriminiert sein. Im Gegensatz zu den in Deutschland beschäftigten Arbeitnehmern könnten die in einem Mitgliedstaat beschäftigten Arbeitnehmer, die in der Regel keine Deutschen seien, das Aufsichtsorgan der Antragsgegnerin nicht wählen und in diesen nicht gewählt werden und seien mithin in ihrem Aufsichtsorgan nicht ausreichend repräsentiert. Dadurch sei es möglich, dass im Aufsichtsorgan einseitig die Interessen der im Inland beschäftigten Arbeitnehmer berücksichtigt werden. Eine ausreichende Rechtfertigung hierfür sei nicht erkennbar. Für möglich hält das Gericht zudem eine Verletzung der Vorschriften über die Freizügigkeit der Arbeitnehmer nach europäischem Recht. Die deutschen Regelungen seien geeignet, Arbeitnehmer wegen des drohenden Verlusts ihrer Mitgliedschaft in einem Aufsichtsorgan davon abzuhalten, sich um tatsächlich angebotene Stellen im europäischen Ausland zu bewerben und sich zu diesem Zweck im Hoheitsgebiet der konforme Auslegung des deutschen Mitbestimmungsrechts beseitigt werden. Für den Fall der Europarechtswidrigkeit des deutschen Mitbestimmungsrechts sei der Gesetzgeber zu einer Änderung berufen.

IV. Praktische Bedeutung

Die Vorlage durch das Berliner Kammergericht an den Europäischen Gerichtshof ist wegen der zu beobachtenden Unsicherheiten in der Rechtsprechung zu begrüßen und kann je nach Ausgang des Verfahrens enorme praktische Auswirkungen zeitigen. Wenig vorhersehbar ist, ob der Europäische Gerichtshof eine Diskriminierung ausländischer Arbeitnehmer bejaht. Zwar knüpfen die einschlägigen Vorschriften des DrittelbG und des MitbestG nicht unmittelbar an die Staatsangehörigkeit an, was auf den ersten Blick gegen eine Diskriminierung spricht. Allerdings hat der Europäische Gerichtshof in der Vergangenheit mit dem Argument des „Effet utile“ des Europäischen Rechts auch versteckte, mittelbare oder indirekte Diskriminierungen, bei denen eine Benachteiligung durch die überwiegende Betroffenheit von EU-Ausländern entsteht, ausreichen lassen (Vgl. die Nachweise bei Hellwig/Behme, AG 2009, 261, 265). Ähnlich weit interpretiert der Europäische Gerichtshof die Beeinträchtigung der Freizügigkeit der Arbeitnehmer (Vgl. Hellwig/Behme, AG 2009, 268).

Falls der Europäische Gerichtshof die Europarechtswidrigkeit des mitbestimmungsrechtlichen Wahlverfahrens in Deutschland feststellt, ist die Rechtsfolge dieser Verletzung zu klären. Da das Berliner Kammergericht eine europarechtskonforme Auslegung der Mitbestimmungsgesetze im Vorlagebeschluss abgelehnt hat, muss der Anwendungsvorrang des Europarechts grundsätzlich zur Unanwendbarkeit der Mitbestimmungsgesetze führen. Dies würde in der Konsequenz (vorerst) bedeuten, dass deutsche Aufsichtsräte nur noch aus Vertretern der Anteilseigner zusammenzusetzen wären (vgl. § 96 Abs. 1 Variante 6 AktG) bis der deutsche Gesetzgeber eine neue (europarechtskonforme) Regelung getroffen hat. Wegen der Hoheitsrechte anderer Mitgliedstaaten ist jedoch der Erlass einer diskriminierungsfreien Regelung nicht so einfach möglich. Fraglich wäre z.B., wie ein in Deutschland normiertes Wahlverfahren im Ausland durchgesetzt werden kann.

Die Familienunternehmen insbesondere mit EU-Auslandsgesellschaften sollten die weitere Entwicklung genauestens im Auge behalten. Falls die Mitbestimmungsgesetze europarechtswidrig sind, wären bestehende und besetzte Aufsichtsräte erst nach einem wirksamen und rechtskräftigen Abschluss eines entsprechenden Statusverfahrens neu zu bilden und zu besetzen. So lange blieben die bisherigen Mitglieder ordnungsgemäß im Amt (vgl. § 96 Abs. 4 AktG) (Mense/Klie, DStR 2015, 1.508, 1.511.).

Strategisch kann sich dann vor Erlass einer eventuellen Neuregelung durch den deutschen Gesetzgeber die Umwandlung in eine Europäische Aktiengesellschaft (SE) anbieten, da die Mitbestimmungsfreiheit im Falle einer Europarechtswidrigkeit der deutschen Mitbestimmungsgesetze auf diesem Wege gegebenenfalls für die Zukunft gesichert werden kann. Solche Maßnahmen sollten jedoch erst nach einer umfassenden rechtlichen Beratung im Einzelfall erwogen werden.

Familienrecht

„Beckengurt und Bettgitter“ bedürfen trotz Vorsorgevollmacht der gerichtlichen Genehmigung

Christian Klein-Wiele, Dipl.-Kfm., Rechtsanwalt

Trotz Vorliegens einer Vorsorgevollmacht ist bei Anordnung und Durchführung ärztlicher Sicherungs- und Zwangsmaßnahmen zusätzlich die Genehmigung durch das Betreuungsgericht nach § 1906 Abs. 5 BGB erforderlich.

I. Hintergrund

Viele Familienunternehmer treffen nach wie vor keine Vorsorge für eine unter Umständen lange Zeit der Handlungsunfähigkeit vor ihrem Tod (Vgl. Hennerkes/Kirchdörfer, Die Familie und ihr Unternehmen, 2. Aufl. 2015, S. 231 ff.). Dieses Problem gewinnt durch die Fortschritte in der Medizin täglich eine größere Bedeutung. Prominente Fälle wie der von Michael Schumacher rücken die Tatsache ins Bewusstsein, dass auch jeder Unternehmer in eine schwierige Lage geraten kann, in der private und geschäftliche Angelegenheiten von anderen wahrgenommen werden müssen.

Entgegen einer weit verbreiteten Meinung geht die Entscheidungsbefugnis in solchen Fällen nicht einfach auf die Angehörigen über. Wenn rechtlich verbindliche Erklärungen oder Entscheidungen gefordert sind, besitzen der Ehegatte oder die Kinder keine gesetzliche Vertretungsmacht. Ist keine anderweitige Vorsorge getroffen worden, so bestellt das Betreuungsgericht einen Betreuer, der für den Betroffenen die Entscheidung trifft.

Hierbei ist jedoch keineswegs zwingend, dass das Gericht einen nahen Angehörigen, z.B. den Ehegatten, zum Betreuer bestellt. Dies bedeutet für Familienunternehmer, dass unter Umständen fremde Dritte, wie z.B. Angestellte von Betreuungsvereinen, die Geschicke des Unternehmens leiten und die Familie keinen entscheidenden Einfluss mehr nehmen kann. Um diese Unsicherheiten im gerichtlichen Bestellungsverfahren zu vermeiden, sollte jeder Familienunternehmer über eine umfassende Vorsorgevollmacht verfügen, die der Vollmachtgeber einer oder mehreren Personen seines Vertrauens erteilt. Die Bevollmächtigten können den Vollmachtgeber dann in allen Angelegenheiten vertreten, wenn dieser alters-, unfall- oder krankheitsbedingt dazu selbst nicht mehr fähig ist, sodass eine gerichtliche Betreuerbestellung nicht erforderlich ist. Weitere Vorteile sind, dass sich der Familienunternehmer die zu bevollmächtigende Person selbst aussuchen und auch eine etwaige Vergütung des Bevollmächtigten bestimmen kann.

Allerdings sieht das Gesetz in bestimmten Ausnahmefällen vor, dass trotz Vorsorgevollmacht oder Betreuung zusätzlich die Genehmigung des Betreuungsgerichts erforderlich ist. Eine solche Genehmigung ist u.a. nach § 1906 Abs. 4, Abs. 5 i.V.m. Abs. 2 BGB dann nötig, wenn dem Vollmachtgeber durch mechanische Vorrichtungen, Medikamente oder auf andere Weise über einen längeren Zeitraum oder regelmäßig die Freiheit entzogen werden soll. Das Bundesverfassungsgericht hat nun über die Frage geurteilt, ob durch eine entsprechend formulierte Vorsorgevollmacht dieses gerichtliche Genehmigungserfordernis vermieden werden kann.

II. zum Sachverhalt

Eine in einem Seniorenpflegeheim untergebrachte Frau erteilte im Jahr 2000 ihrem Sohn eine notarielle General- und Vorsorgevollmacht, mit der sie ihn bevollmächtigte, „soweit gesetzlich zulässig, in allen persönli-chen Angelegenheiten, auch soweit sie meine Gesundheit betreffen, sowie in allen Vermögens-, Steuer- und sonstigen Rechtsangelegenheiten in jeder denkbaren Hinsicht zu vertreten und Entscheidungen für mich und an meiner Stelle ohne Einwilligung des Vormundschaftsgerichts zu treffen und diese auszuführen bzw. zu voll- ziehen.“ Die Vollmacht umfasste auch die Befugnis zur Vornahme von Freiheitsentziehungsmaßnahmen durch mechanische Vorrichtung, Medikamente oder auf andere Weise über einen längeren Zeitraum.

Nachdem die Frau mehrfach aus einem Stuhl oder ihrem Bett auf den Boden gefallen war und sich dabei Verletzungen zugezogen hatte, willigte der Sohn in Ausübung der Vollmacht ein, Gitter am Bett der Frau zu befestigen und diese tagsüber mit einem Beckengurt im Rollstuhl zu fixieren.

Das Amtsgericht Heilbronn erteilte die Genehmigung zu den Maßnahmen, allerdings nur befristet. Daraufhin legte der Sohn Rechtsmittel gegen das Genehmigungserfordernis bis hin zum Bundesgerichtshof ein und zog schließlich sogar vor das Bundesverfassungsgericht. Das Genehmigungserfordernis verstoße gegen das Recht auf Selbstbestimmung. Ein staatliches Genehmigungserfordernis komme einer Bevormundung gleich.

III. tragende Gesichtspunkte des Beschlusses des BVerfG

Das Bundesverfassungsgericht hat klargestellt, dass das gerichtliche Genehmigungserfordernis bei freiheitsentziehenden Maßnahmen nicht durch eine weit formulierte Vorsorgevollmacht abbedungen werden kann. Zwar greife die in § 1906 Abs. 5 BGB festgeschriebene Verpflichtung, vor zusätzlichen Freiheitsbeschränkungen trotz Einwilligung der durch Vorsorgevollmacht Bevollmächtigten eine gerichtliche Genehmigung der Einwilligung einholen zu müssen, in das Selbstbestimmungsrecht der Frau aus Art. 2 Abs. 1 GG ein. Das Bundesverfassungsgericht erkennt zudem ausdrücklich die Vorsorgevollmacht als wichtiges Institut an, das darauf gerichtet ist, bei Verlust eigener Entscheidungsfähigkeit nicht unter staatliche Fürsorge gestellt zu werden, sondern durch vertraute Privatpersonen verantwortungsvoll versorgt zu werden. Allerdings sei der Staat verfassungsrechtlich verpflichtet, sich schützend und fördernd vor das Leben, die körperliche Unversehrtheit, die Freiheit und die sexuelle Selbstbestimmung des Einzelnen zu stellen und sie vor Eingriffen von Seiten Dritter zu bewahren, wo die Grundrechtsberechtigten selbst nicht mehr dazu in der Lage sind. Im Rahmen dieses Freiheitsschutzes komme es allein auf den tatsächlichen, natürlichen Willen des Betroffenen an. Könne dem Betroffenen die Notwendigkeit der Freiheitsbeschränkung nicht näher gebracht werden, stelle sich die durch Dritte vorgenommene Beschränkung der Freiheit als besonders bedrohlich dar.

Dieses Bedrohlichkeitsempfinden werde auch nicht dadurch gemindert, dass die Betroffenen im zeitlichen Vorfeld zu einem Zeitpunkt umfassender Vernunft und Geschäftsfähigkeit vorgreiflich in derartige Beschränkungen eingewilligt oder erklärt hätten, die Entscheidung über solche Beschrän- kungen in die alleinige Verantwortung bestimmter Vertrauenspersonen legen zu wollen. Im konkreten Moment der Fixierung stelle sich die Maßnahme unabhängig von vorangegangenen Einverständniserklärungen als Beschränkung der persönlichen Freiheit dar. Daher entspreche es der Wahrnehmung staatlicher Schutzpflichten, wenn der Gesetzgeber in § 1906 Abs. 5 BGB die Zulässigkeit, Erforderlichkeit und Angemessenheit der Einwilligung des Bevollmächtigten in derartige Freiheitsbeschränkungen unter ein gerichtliches Genehmigungserfordernis stelle.

IV. Stellungnahme

Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts ist konsequent und entspricht dem Wortlaut des Gesetzes. In bestimmten Ausnahmefällen ist trotz Vorliegens einer Vorsorgevollmacht eine gerichtliche Überprüfung ärztlicher Sicherungs- und Zwangsmaßnahmen angezeigt und sinnvoll. Diese sind für den Betroffenen in der konkreten Situation mit starken Einschränkungen verbunden, die er im Vorfeld nicht überblicken kann.

Es ist jedoch darauf hinzuweisen, dass dies kein Nachteil der Vorsorgevollmacht gegenüber der gerichtlichen Bestellung eines Betreuers ist. Denn auch im Fall der Bestellung eines Betreuers hätte nach dem vorliegenden Sachverhalt zusätzlich eine gerichtliche Genehmigung eingeholt werden müssen.

Vor diesem Hintergrund ist wegen der mit der Vorsorgevollmacht verbundenen Vorteile insbesondere Familienunternehmern und -gesellschaftern dringend anzuraten, eine solche zu errichten und damit persönlich schwierigen Situationen rechtlich möglichst vorzubeugen.