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BVerfG, Beschluss vom 10.06.2015, 2 BvR 1967 / 12

Gründe

I.

Die Verfassungsbeschwerde betrifft die Frage, ob bei Vorliegen einer Vorsorgevollmacht bei der Anordnung und Durchführung ärztlicher Sicherungs- und Zwangsmaßnahmen zusätzlich die Genehmigung durch das Betreuungsgericht nach § 1906 Abs. 5 BGB erforderlich ist oder ob durch Erteilen der Vorsorgevollmacht wirksam auf das Erfordernis dieser Genehmigung verzichtet werden kann.

1. Die in einem Seniorenpflegeheim untergebrachte Beschwerdeführerin zu 1. erteilte im Jahr 2000 eine notarielle General- und Vorsorgevollmacht, mit der sie ihren Sohn, den Beschwerdeführer zu 2., bevollmächtigte, sie

„soweit gesetzlich zulässig, in allen persönlichen Angelegenheiten, auch soweit sie meine Gesundheit betreffen, sowie in allen Vermögens-, Steuer- und sonstigen Rechtsangelegenheiten in jeder denkbaren Hinsicht zu vertreten und Entscheidungen für mich und an meiner Stelle ohne Einwilligung des Vormundschaftsgerichts zu treffen und diese auszuführen bzw. zu vollziehen.“

Unter „§ 3 Bereich der gesundheitlichen Fürsorge und des Selbstbestimmungsrechts“ heißt es zur Unterbringung:

„Die Vollmacht berechtigt dazu, meinen Aufenthalt zu bestimmen. Die Generalvollmacht umfasst auch die Befugnis zu Unterbringungsmaßnahmen im Sinne des § 1906 BGB, insbesondere zu einer Unterbringung, die mit Freiheitsentziehung verbunden ist, zur sonstigen Unterbringung in einer Anstalt, einem Heim oder einer sonstigen Einrichtung sowie zur Vornahme von sonstigen Freiheitsentziehungsmaßnahmen durch mechanische Vorrichtungen, Medikamente o.a. auch über einen längeren Zeitraum.“

Die Beschwerdeführerin zu 1. erreichte im Sommer 2012 die Pflegestufe III. Nachdem sie mehrfach aus einem Stuhl oder ihrem Bett auf den Boden gefallen war und sich dabei Verletzungen zugezogen hatte, willigte der Beschwerdeführer zu 2. in Ausübung der Vollmacht ein, Gitter am Bett der Beschwerdeführerin zu 1. zu befestigen und diese tagsüber mit einem Beckengurt im Rollstuhl zu fixieren.

2. Mit angegriffenem Beschluss vom 23. September 2011 genehmigte das Amtsgericht Heilbronn die Einwilligung des Beschwerdeführers zu 2. in die freiheitsbeschränkenden Maßnahmen. § 1906 Abs. 5 BGB sei anwendbar; das Amtsgericht könne die Norm nicht wirksam für verfassungswidrig erklären oder ignorieren. Ein Vorlageverfahren nach Art. 100 Abs. 1 GG sei nicht angezeigt, da das Bundesverfassungsgericht in einer Entscheidung vom 7. Januar 2009 – 1 BvL 2/05 (BVerfGK 15, 1) – keine Zweifel an der Verfassungsgemäßheit des § 1906 BGB geäußert habe.

In ihrer gegen diesen Beschluss eingelegten Beschwerde führten die Beschwerdeführerin zu 1. und der Beschwerdeführer zu 2. aus, dass die Beschwerdeführerin zu 1. keine Kontrolle durch staatliche Einrichtungen gewollt und dies in ihrer Vollmacht durch die Formulierung, Entscheidungen sollten „ohne Einschaltung des Vormundschaftsgerichts“ getroffen werden, unmissverständlich zum Ausdruck gebracht habe. Das Amtsgericht habe sich nicht mit der Frage auseinandergesetzt, ob § 1906 Abs. 5 BGB dispositiv sei und von der Betroffenen in Anwendung ihres verfassungsrechtlich abgesicherten Selbstbestimmungsrechts ausgeschlossen werden könne. § 1906 Abs. 5 BGB müsse im Lichte des Grundgesetzes gesehen werden und deshalb zwingend von dem betroffenen Personenkreis abbedungen werden können; andernfalls sei die Norm verfassungswidrig. Nach dem Recht auf Selbstbestimmung könne jede Person zu ihrem eigenen Schutz auf gesetzliche Kontrollrechte verzichten. Diese Rechtsauffassung sei auch vom Willen des Gesetzgebers getragen, was sich an der 2009 neu geschaffenen Regelung zur verbindlichen Patientenverfügung zeige. Überdies wohne die Beschwerdeführerin zu 1. in einem Pflegeheim und werde durch wechselndes Personal betreut, mindestens einmal im Monat komme ein Hausarzt zur Kontrolle. Bei Missbrauch der Vollmacht gebe es das Instrument der Kontrollbetreuung nach § 1896 Abs. 3 BGB, weswegen eine weitere gerichtliche Kontrolle nach § 1906 Abs. 5 BGB nicht erforderlich, sondern lediglich formale Gesetzespflicht sei.

Nachdem das Amtsgericht der Beschwerde mit Beschluss vom 2. Dezember 2011 nicht abhalf, wies das Landgericht Heilbronn sie mit angegriffenem Beschluss vom 15. Dezember 2011 als unbegründet zurück. Mit der General- und Vorsorgevollmacht habe die Betroffene nicht auf das betreuungsgerichtliche Verfahren zur Genehmigung freiheitsentziehender Maßnahmen verzichtet. Der durch § 1906 Abs. 4 BGB in Bezug genommene § 1906 Abs. 2 BGB konkretisiere die Verfahrensgarantie des Art. 104 Abs. 2 GG. Dieser im Grundgesetz verankerte formale Schutz, dem zufolge über die Zulässigkeit und Fortdauer einer Freiheitsentziehung ein Richter zu entscheiden habe, könne nicht durch rechtsgeschäftliche Erklärungen eines Betroffenen aufgegeben werden. Die einseitige Berufung auf das durch Art. 1 und 2 GG geschützte Selbstbestimmungsrecht führe nicht weiter. Zu beachten sei auch die mit Art. 104 Abs. 2 GG untrennbar im Zusammenhang stehende materielle Freiheitsgarantie des Art. 2 Abs. 2 GG. Außerdem übersehe die Beschwerde, dass bei Aufgabe des betreuungsgerichtlichen Schutzes dem Missbrauch der Vollmacht auch durch die Anordnung einer Kontrollbetreuung nicht mehr begegnet werden könne.

3. Mit ihrer gegen den Beschluss des Landgerichts eingelegten Rechtsbeschwerde rügten die Beschwerdeführerin zu 1. und der Beschwerdeführer zu 2. eine Verletzung des Selbstbestimmungsrechts der Beschwerdeführerin zu 1. aus Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG. Das Bundesverfassungsgericht habe zwar in BVerfGK 15, 1 ausgesprochen, dass der Genehmigungsvorbehalt des § 1906 Abs. 5 BGB dem Schutz der Betroffenen diene. Der Beschluss habe aber auch die Frage aufgeworfen, ob die Kontrolle zur Sicherung des Selbstbestimmungsrechts der Betroffenen zugleich einen Eingriff in deren Selbstbestimmungsrecht darstellen könne. Diese Frage sei zu bejahen. Die Betreuung tangiere stets die Freiheit der Selbstbestimmung und habe einen Doppelcharakter als soziale Leistung und Eingriff in die Freiheit des Betroffenen. Nichts anderes könne für die in § 1906 Abs. 5 BGB vorgesehene gerichtliche Kontrolle gelten, die nur dann als Eingriff in die Selbstbestimmung der Betroffenen hinzunehmen sei, wenn sie deren Wohl diene. Andernfalls mache § 1906 Abs. 5 BGB die gerichtliche Zuständigkeit im Bereich der Vorsorgevollmacht zum Normalfall und diese damit wertlos; unter der Überschrift der Stärkung des Selbstbestimmungsrechts kehre die Norm die Verhältnisse zu einer staatlichen Bevormundung in diesem Bereich als Regelfall um. Das Ziel, die Privatautonomie des Vollmachtgebers zu stärken und staatliche Einmischung zu vermeiden, werde damit verfehlt.

Die zeitliche Befristung der Genehmigung mache zudem die wiederholte gerichtliche Entscheidung erforderlich, was für Betroffene und Bevollmächtigte mit erheblichen Kosten verbunden sei. Der darin liegende Eingriff sei auch deshalb unverhältnismäßig, weil bei Verdacht des Missbrauchs der Vollmacht jederzeit etwa auf Antrag der Pflegeeinrichtung eine Kontrollbetreuung nach § 1896 Abs. 3 BGB angeordnet werden könne. Die Behauptung des Landgerichts, die Kontrollbetreuung könne den Schutz nicht gewährleisten, sei nicht nachvollziehbar. Sonstige Gründe für die Missachtung des durch Art. 2 Abs. 1 GG garantierten Selbstbestimmungsrechts der Beschwerdeführerin zu 1. seien ebenfalls nicht ersichtlich. Der in Art. 104 Abs. 2 GG normierte Richtervorbehalt gelte nur für den Fall einer auf Grund eines Gesetzes angeordneten Freiheitsbeschränkung durch die öffentliche Gewalt. Beruhe die Freiheitsbeschränkung auf Selbstbestimmung, sei der Richtervorbehalt von vornherein nicht tangiert.

Der Gesetzgeber habe auch die Patientenverfügung ausdrücklich anerkannt und in § 1904 Abs. 5 BGB eine betreuungsgerichtliche Genehmigung nur vorgesehen, wenn zwischen Bevollmächtigtem und Arzt unterschiedliche Auffassungen oder Zweifel über den Behandlungswillen der Betroffenen bestünden. Die Bedeutung des Selbstbestimmungsrechts sei vom Gesetzgeber selbst für diesen besonders einschneidenden Bereich lebensverlängernder Maßnahmen unterstrichen worden und müsse erst recht bei der Einwilligung in weit weniger einschneidende Maßnahmen zum Tragen kommen. Die Anwendung des § 1906 Abs. 5 BGB unter Missachtung des eindeutig zum Ausdruck gebrachten gegenteiligen Willens der Betroffenen sei daher mit Art. 2 Abs. 1 GG unvereinbar. Wäre die Norm gleichwohl unabdingbar, so wäre sie verfassungswidrig. Deshalb müsse die Norm verfassungskonform dahingehend ausgelegt werden, dass die gerichtliche Genehmigung trotz wirksamer Vollmacht nur in den Fällen eingeholt werden müsse, in denen auch die Voraussetzungen für die Bestellung einer Kontrollbetreuung vorlägen.

Mit angegriffenem Beschluss vom 27. Juni 2012 wies der Bundesgerichtshof die Rechtsbeschwerde als unbegründet zurück. Auf die durch § 1906 Abs. 5 Satz 1, Satz 2 in Verbindung mit Abs. 4, Abs. 2 BGB angeordnete gerichtliche Überprüfung der durch den Bevollmächtigten erteilten Einwilligung könnten die Betroffenen nicht vorgreifend verzichten. Dies folge aus der Natur des Überprüfungsgegenstandes. Der Genehmigungsvorbehalt des § 1906 Abs. 5 in Verbindung mit Abs. 2 BGB diene dem Schutz der Betroffenen (mit Hinweis auf BTDrucks 13/7158 S. 34). Unter die Kontrolle des Betreuungsgerichts sei nicht die in Ausübung des Selbstbestimmungsrechts erfolgte Entscheidung der Betroffenen gestellt, sondern die gesetzesgemäße Handhabung der Vorsorgevollmacht durch den Bevollmächtigten. Damit solle sichergestellt werden, dass die Vorsorgevollmacht im Sinne der Betroffenen ausgeübt werde. Diese Kontrolle diene der Sicherung des – in Ausübung des Selbstbestimmungsrechts – artikulierten Willens der Betroffenen. Die zugleich hierin liegende Beschränkung des Selbstbestimmungsrechts sei verfassungsrechtlich gerechtfertigt. Art. 2 Abs. 1 GG gewährleiste das Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit nicht schrankenlos, sondern nur im Rahmen der verfassungsmäßigen Ordnung. Diese sehe ein Genehmigungsverfahren nach § 1906 Abs. 2 BGB zwingend vor, dessen Verhältnismäßigkeit angesichts der möglichen Tragweite freiheitsentziehender Maßnahmen außer Zweifel stehe.

II.

Mit ihrer Verfassungsbeschwerde wenden sich die Beschwerdeführerin zu 1. und der Beschwerdeführer zu 2. unmittelbar gegen die fachgerichtlichen Entscheidungen und mittelbar gegen § 1906 Abs. 5 BGB. Sie rügen eine Verletzung des durch Art. 2 Abs. 1 GG garantierten Selbstbestimmungsrechts der Beschwerdeführerin zu 1. Zur Begründung wiederholen sie ihren Vortrag aus dem fachgerichtlichen Verfahren.

III.

Die Verfassungsbeschwerde der Beschwerdeführerin zu 1. und des Beschwerdeführers zu 2. wird nicht zur Entscheidung angenommen, da die Annahmevoraussetzungen des § 93a Abs. 2 BVerfGG nicht vorliegen. Sie hat keine Aussicht auf Erfolg, weil sie unbegründet ist. Durch die fachgerichtlichen Entscheidungen, die die Genehmigung der Einwilligung in die zusätzlichen freiheitsbeschränkenden Maßnahmen aufgrund von § 1906 Abs. 5 BGB aussprechen, werden die Beschwerdeführerin zu 1. und der Beschwerdeführer zu 2. nicht in ihren Grundrechten verletzt.

1. Die in § 1906 Abs. 5 BGB festgeschriebene Verpflichtung, vor zusätzlichen Freiheitsbeschränkungen trotz Einwilligung der durch Vorsorgevollmacht Bevollmächtigten eine gerichtliche Genehmigung der Einwilligung einholen zu müssen, greift zwar in das Selbstbestimmungsrecht der Beschwerdeführerin zu 1. aus Art. 2 Abs. 1 GG ein. Das Recht auf Selbstbestimmung wird jedoch nicht uneingeschränkt, sondern nur im Rahmen der verfassungsmäßigen Ordnung gewährleistet. Bestandteil dieser verfassungsmäßigen Ordnung ist jede Rechtsnorm, die formell und materiell der Verfassung gemäß ist (BVerfGE 59, 275 ; stRspr.). Diese Voraussetzung erfüllt die angegriffene Vorschrift des § 1906 Abs. 5 BGB, aufgrund derer die Fachgerichte die Einwilligung des Beschwerdeführers zu 2. in die freiheitsbeschränkenden Maßnahmen bezüglich der Beschwerdeführerin zu 1. genehmigt haben.

a) Der in der Pflicht zur Einholung einer gerichtlichen Genehmigung der Einwilligung des Bevollmächtigten in die zusätzlichen freiheitsbeschränkenden Maßnahmen liegende Eingriff ist allerdings nicht ohne Weiteres bereits vor dem Hintergrund des in Art. 104 Abs. 2 Satz 1 GG festgeschriebenen Richtervorbehalts gerechtfertigt. Auch soweit dessen unmittelbare Geltung bei einer durch den staatlich bestellten Betreuer veranlassten zusätzlichen Freiheitsbeschränkung des Betroffenen feststeht (vgl. für das Rechtsinstitut der Vormundschaft BVerfGE 10, 302 <302; 326 f.>), ist die entsprechende Anwendung des Richtervorbehalts auf einen nach privatautonomen Grundsätzen bestellten Bevollmächtigten, der die öffentlich-rechtliche Bestellung eines Betreuers entbehrlich macht, zweifelhaft. Das die Notwendigkeit der Einrichtung einer Betreuung ersetzende Institut der Vorsorgevollmacht beruht auf einer privatautonomen Entscheidung, die darauf gerichtet ist, bei Verlust eigener Entscheidungsfähigkeit nicht unter staatliche Fürsorge gestellt, sondern durch (vertraute) Privatpersonen verantwortungsvoll versorgt zu werden. Dies weckt Zweifel an dem den Richtervorbehalt erfordernden öffentlich-rechtlichen Charakter der Freiheitsentziehung (vgl. für ein ausdrückliches Offenlassen entsprechender Anwendung des Art. 104 Abs. 2 GG auf eine von Eltern veranlasste Unterbringung der Kinder BVerfGE 10, 302 ), kann hier aber dahinstehen.

b) Der Staat ist durch Art. 2 Abs. 2 Satz 1 und Satz 2 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 Satz 2 GG verpflichtet, sich dort schützend und fördernd vor das Leben, die körperliche Unversehrtheit, die Freiheit und die sexuelle Selbstbestimmung des Einzelnen zu stellen und sie vor Eingriffen von Seiten Dritter zu bewahren (vgl. BVerfGE 39, 1 ; 46, 160 ; 121, 317 ; BVerfGK 17, 1 ), wo die Grundrechtsberechtigten selbst nicht (mehr) dazu in der Lage sind (vgl. jüngst Bundesverfassungsgericht, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 23. März 2015 – 2 BvR 1304/12 – juris, Rn. 13). Dabei ist einhellig anerkannt, dass es im Rahmen des straf- und zivilrechtlichen Freiheitsschutzes (§ 239 StGB, § 823 BGB) bei der Bestimmung, ob eine Verletzung der Freiheit des Betroffenen vorliegt, lediglich auf dessen tatsächlichen, natürlichen Willen, nicht auf den Willen seines gesetzlichen Vertreters ankommt (BVerfGE 10, 302 ) und fehlende Einsichts- und Geschäftsfähigkeit den Schutz des Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG nicht von vornherein entfallen lässt (vgl. BVerfGE 10, 302 ; 58, 208 ; 128, 282 ). Vielmehr kann sich für Betroffene, die zur Bildung eines vernünftigen Willens nicht mehr in der Lage sind und denen die Notwendigkeit der zusätzlichen Freiheitsbeschränkung nicht mehr näher gebracht werden kann, die durch Dritte vorgenommene Beschränkung der Freiheit als besonders bedrohlich darstellen (vgl. für eine vergleichbare Wertung bei medizinischer Zwangsbehandlung eines krankheitsbedingt nicht mehr Einsichtsfähigen BVerfGE 128, 282 ).

Insbesondere dieses subjektive Bedrohlichkeitsempfinden wird in der konkreten Situation der Freiheitsbeschränkung nicht dadurch gemindert, dass die Betroffenen im zeitlichen Vorfeld zu einem Zeitpunkt umfassender Vernunft und Geschäftsfähigkeit vorgreiflich in derartige Beschränkungen eingewilligt oder erklärt haben, die Entscheidung über solche Beschränkungen in die alleinige Verantwortung bestimmter Vertrauenspersonen legen zu wollen. Im Hinblick darauf, dass für die grundrechtliche Beurteilung der Schwere des Eingriffs auch das subjektive Empfinden von Bedeutung ist (vgl. BVerfGE 89, 315 ; 128, 282 ), macht es in diesem konkreten Fall für die Grundrechtsträgerin keinen Unterschied, ob ihr aufgrund Veranlassung durch einen staatlich bestellten Betreuer oder den zur Vorsorge Bevollmächtigten Fixierungen zur Beschränkung ihrer Bewegungsfreiheit angelegt werden sollen. Die Maßnahme stellt sich im konkreten Moment unabhängig von vorangegangenen Einverständniserklärungen gleich bedrohlich als Beschränkung der persönlichen Freiheit dar und ist auch in diesen Fällen nur unter der Voraussetzung zulässig, dass ohne (zusätzliche) Beschränkung der Fortbewegungsfreiheit andere Rechtsgüter der Betroffenen wie deren körperliche Unversehrtheit oder gar deren Leben verletzt zu werden drohten. Es entspricht daher der Wahrnehmung staatlicher Schutzpflichten, wenn der Gesetzgeber in § 1906 Abs. 5 BGB die Zulässigkeit, Erforderlichkeit und Angemessenheit der Einwilligung des Bevollmächtigten in derartige Freiheitsbeschränkungen unter ein gerichtliches Genehmigungserfordernis stellt.

c) Der zugleich hierin liegende Eingriff in das Selbstbestimmungsrecht der Betroffenen aus Art. 2 Abs. 1 GG ist im Hinblick auf diesen Schutz verhältnismäßig. Das vom Beschwerdeführer zu 2. angeführte Argument, die Neufassung des § 1904 Abs. 4 BGB gebiete, erst recht bei dem weniger schweren Eingriff zusätzlicher Freiheitsbeschränkungen auf das gerichtliche Genehmigungserfordernis zu verzichten, verkennt, dass der Anwendungsbereich des § 1906 BGB ein anderer ist als derjenige des § 1904 BGB. Die im Rahmen von § 1906 BGB zu ergreifenden Maßnahmen setzen begrifflich voraus, dass die Betroffenen einen sich gegen die Beschränkung richtenden natürlichen Willen noch bilden und diesen auch zum Ausdruck bringen können. Andernfalls wäre der Anwendungsbereich der Norm bereits nicht eröffnet, und es läge keine (zusätzliche) Freiheitsbeschränkung vor. Bei Maßnahmen im Rahmen von § 1906 BGB besteht also immer eine Diskrepanz zwischen dem natürlichen Willen der Betroffenen, der freiheitsbeschränkenden Maßnahme und (möglicherweise) dem vormals „vernünftig“ geäußerten Willen.

Dagegen geht es im Rahmen von § 1904 BGB darum, festzustellen, ob die Einwilligung in die anstehende Maßnahme tatsächlich dem ermittelten, individuell-mutmaßlichen Patientenwillen entspricht (vgl. die Gesetzesbegründung zur Einführung des § 1904 Abs. 4, BTDrucks 16/8442, S. 19), wobei gerade nach Maßgabe des § 1901a BGB immer auch der akute natürliche Wille in die Bestimmung des Gewollten mit einzubeziehen ist. Nach der Gesetzesbegründung umfasst die Prüfung alle Gesichtspunkte, die sich aus der aktuellen Lebens- und Behandlungssituation der Betroffenen ergeben, insbesondere auch die Prüfung, ob das aktuelle Verhalten der nicht mehr entscheidungsfähigen Patienten konkrete Anhaltspunkte dafür zeigt, dass sie unter den gegebenen Umständen den zuvor schriftlich geäußerten Willen nicht mehr gelten lassen wollen (BTDrucks 16/8442, S. 14 f.). Derartige Anhaltspunkte können sich nach der Gesetzesbegründung insbesondere aus dem situativ-spontanen Verhalten der Patienten gegenüber vorzunehmenden oder zu unterlassenden ärztlichen Maßnahmen ergeben (vgl. BTDrucks 16/8442, S. 15). Die nach § 1904 BGB vorzunehmenden Maßnahmen sollen also dem Willen der Patienten (der auch unter Einbeziehung des – nur noch – natürlichen Willens zu ermitteln ist) entsprechen ; erst soweit über dessen Inhalt keine Einigkeit erzielt werden kann, ist das Gericht einzuschalten. Demgegenüber soll im Rahmen von § 1906 BGB der jedenfalls noch vorhandene natürliche Wille der Betroffenen überwunden werden. Vor diesem Hintergrund ist die unterschiedliche Handhabung der Erforderlichkeit des gerichtlichen Genehmigungserfordernisses gerechtfertigt.

2. Soweit die Verfassungsbeschwerde darauf abstellt, dass die Möglichkeit der Einrichtung einer Kontrollbetreuung ausreichenden Schutz gewährleiste, weswegen das unabdingbare gerichtliche Genehmigungserfordernis das Selbstbestimmungsrecht zu sehr beschränke, verkennt sie, dass die Bestellung eines Kontrollbetreuers nur einen nachträglichen Schutz gewähren würde. Die gegen den natürlichen Willen der Betroffenen vorzunehmende Freiheitsbeschränkung wäre keiner vorgreiflichen Kontrolle unterworfen, und bei einem im Nachhinein festgestellten Vollmachtsmissbrauch könnten die durchgeführten Maßnahmen nicht mehr rückgängig gemacht werden (vgl. für diesen Aspekt Müller, DNotZ 1999, S. 107 ; vgl. für das nur nachträgliche Prüfungsrecht im Rahmen der damals gültigen Vorschriften des BGB, die hinter einer präventiven richterlichen Genehmigung zurückblieben, BVerfGE 10, 302 ).

Von einer weiteren Begründung wird gemäß § 93d Abs. 1 Satz 3 BVerfGG abgesehen.

Diese Entscheidung ist unanfechtbar.

 

 

10.06.2015, 2 BvR 1967 / 12
Fundstelle
FuS Ausgabe 4 / 2015, S. 155

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FG Münster, Urteil vom 28.08.2014, 3 K 743 / 13

Tenor:

 

Unter Abänderung der Bescheide über die gesonderte und einheitliche Feststellung von Besteuerungsgrundlagen für 2008 und 2009, sämtlich zuletzt vom 14.09.2012, in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 08.02.2013 werden für den Feststellungszeitraum 2008 die Einkünfte aus Gewerbebetrieb auf 118.406,81 Euro und die Einkünfte aus Vermietung Verpachtung auf 0 Euro sowie für den Feststellungszeitraum 2009 die Einkünfte aus Gewerbebetrieb auf 67.435,87 Euro und die Einkünfte aus Vermietung Verpachtung auf 0 Euro gesondert und einheitlich festgestellt.

 

Die Kosten des Verfahrens trägt der Beklagte.

 

Die Revision wird zugelassen.

 

Das Urteil ist wegen der Kosten ohne Sicherheitsleistung vorläufig vollstreckbar. Der Beklagte kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des Kostenerstattungsanspruchs der Klägerin abwenden, soweit nicht die Klägerin zuvor Sicherheit in derselben Höhe leistet.

 

 

Tatbestand

 

Streitig ist, ob die Klägerin auch nach Überführung der Anteile an der Komplementär-GmbH in ihr Gesamthandsvermögen noch gewerblich geprägt im Sinne des § 15 Abs. 3 Nr. 2 Einkommensteuergesetz (EStG) ist.

 

I.

 

Die Klägerin ist eine Gesellschaft in der Rechtsform der GmbH & Co. KG, deren Gegenstand die Vermögensverwaltung sowie die Verwaltung, Vermietung und Verpachtung von Immobilien, Grundstücken, Gewerbe- und Wohnbauten sowie sonstigen Gewerbeanlagen und deren An- und Verkauf für eigene Rechnung ist (§ 2 des Gesellschaftsvertrages, Blatt 49 der Vertragsakte). Sie wurde mit notarieller Urkunde vom 25.06.2007 (UR-Nr. des Notars O in L) unter der Firma N GmbH & Co. KG gegründet und in das Handelsregister B (HRA ) eingetragen. Persönlich haftende Gesellschafterin war die N Gesellschaft für Beteiligungsmanagement und Geschäftsführung mbH. Alleinige Kommanditistin war die N GmbH mit einem Kommanditanteil in Höhe von 500 Euro.

 

Mit Urkunde UR-Nr. des Notars O vom 29.07.2007 gründeten Frau T 2, Herr T 1 und Frau T 3 die E-GmbH mit Sitz in C.

 

Mit Urkunde UR-Nr. des Notars O vom 29.11.2007 erwarben Frau T 2, Herr T 1 und Frau T 3 die Kommanditanteile an der N -KG mit folgenden Beteiligungsverhältnissen:

 

T 2 69 %

 

T 1 21 %

 

T 3 10 %.

 

Den Geschäftsanteil an der N in Höhe von 25.000 Euro verkaufte die N GmbH an die vorgenannten Personen im gleichen Beteiligungsverhältnis. Der Geschäftsanteil wurde zu diesem Zweck in drei Geschäftsanteile (17.250 Euro, 5.250 Euro und 2.500 Euro) geteilt. Die E-GmbH trat der N-KG mit sofortiger Wirkung ohne festen Kapitalanteil bei. Die N schied mit sofortiger Wirkung aus, jedoch nicht, bevor die E-GmbH in das Handelsregister eingetragen worden war. Dies erfolgte am 05.02.2008.

 

In der gleichen Urkunde wurde eine Gesellschafterversammlung der N N-KG abgehalten. Die Firma der Gesellschaft wurde in U GmbH & Co. KG geändert. Der Sitz der Gesellschaft wurde nach C verlegt. Die Kommanditeinlage wurde unter Aufrechterhaltung der jeweils prozentualen Beteiligungen der Familienangehörigen T auf 1.000 Euro erhöht. Der Gesellschaftsvertrag wurde vollständig neu gefasst und als Anlage zu dieser Urkunde genommen (Blatt 17 ff. der Vertragsakte). Darin heißt es insbesondere:

 

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Geschäftsführung und Vertretung

 

Zur Geschäftsführung und Vertretung der Gesellschaft ist die persönlich haftende Gesellschafterin berechtigt und verpflichtet. Sie selbst ist von den einschränkenden Bestimmungen des § 181 BGB befreit.

 

§ 7

 

Wahrnehmung der Rechte an der Komplementärin

 

(Einheitsgesellschaft)

 

(1) Soweit es um die Wahrnehmung der Rechte aus oder an den der Gesellschaft gehörenden Geschäftsanteilen an der Komplementärin geht, ist die Komplementärin von der Geschäftsführung und Vertretung an sich selbst ausgeschlossen. Anstelle der persönlich haftenden Gesellschafterin sind die Kommanditisten zur Geschäftsführung und Vertretung der Gesellschaftsrechte an der Komplementärin nach Maßgabe der folgenden Absätze befugt.

 

(2) Die Kommanditisten üben ihre Gesellschaftsrechte an der Komplementärin aus, indem sie über die jeweilige Maßnahme Beschluss fassen. Die Ausübung des Beschlusses erfolgt durch einen oder mehrere von der Kommanditistenversammlung beauftragte Kommanditisten im Namen der Gesellschaft. Zum Zweck der Ausführung der Beschlüsse der Kommanditistenversammlung wird jedem Kommanditist hiermit Vollmacht zur Vertretung der Gesellschaft erteilt, von der jedoch nur nach Maßgabe des Beschlusses der Kommanditistenversammlung Gebrauch gemacht werden darf. Alle Kommanditisten werden insoweit von den Beschränkungen des § 181 BGB befreit.

 

(3) Die Kommanditisten fassen ihre Beschlüsse in der Kommanditistenversammlung. Die Kommanditistenversammlung findet am Sitz der Gesellschaft statt. Für ihre Einberufung, ihre Beschlussfähigkeit, die Vertretung durch Dritte, die Beschlussfassung und die Protokollierung der gefassten Beschlüsse gilt der § 9 „Gesellschafterversammlung“ dieses Gesellschaftsvertrages entsprechend.

 

(4) Beschlüsse der Kommanditisten werden grundsätzlich mit einfacher Mehrheit der abgegebenen Stimmen gefasst. Folgende Beschlüsse bedürfen eines einstimmigen Gesellschafterbeschlusses aller vorhandenen Stimmen:

 

– Erteilung von Weisungen an die Geschäftsführung der Komplementärin, soweit es um die Unternehmensführung der KG geht,

 

– Bestellung und Abberufung von Geschäftsführern der Komplementärin,

 

– Änderung der Satzung der Komplementärin,

 

– Verfügung über Geschäftsanteile der Komplementärin,

 

– Auflösung der Komplementärin.

 

Die Stimmrechtsverteilung erfolgt abweichend von der kapitalmäßigen Beteiligung der Gesellschafter nach folgendem Verteilungsschlüssel, wonach der Gründungsgesellschafterin T 2 vier Stimmen, dem Gründungsgesellschafter T 1 zwei Stimmen, der Gründungsgesellschafterin T 3 sowie weiteren hinzutretenden Neu-Gesellschaftern jeweils eine Stimme zustehen.

 

(5) Ein Kommanditist hat in der Kommanditistenversammlung kein Stimmrecht, wenn

 

– er entlastet oder von einer Verbindlichkeit befreit werden soll,

 

– er ganz oder teilweise vom Wettbewerbsverbot befreit werden soll,

 

– ein Rechtsgeschäft mit ihm vorgenommen oder ein Rechtsstreit gegen ihn eingeleitet oder beendet werden soll,

 

– es um seine Abberufung als Geschäftsführer der Komplementärin geht oder

 

– der Gesellschafter oder dessen Privatgläubiger der Gesellschaft gekündigt hat.

 

(6) Solange Frau T 2 Gesellschafterin der Gesellschaft ist, steht ihr als nicht übertragbares und nicht vererbliches gesellschaftsrechtliches Sonderrecht bei allen Beschlussfassungen der Kommanditistenversammlung das Recht zu, bei Stimmengleichheit („Pattsituation“) mit ihrem Stimmrecht im Wege eines Stichentscheides eine Entscheidung der Kommanditistenversammlung herbeizuführen. Nach ihrem Ausscheiden aus der Gesellschaft steht dieses Sonderrecht des Stich-Entscheids ihrem Sohn T 1 zu. Nach dessen Ausscheiden aus der Gesellschaft entfällt das Sonderrecht ersatzlos.

 

§ 9

 

Gesellschafterversammlung

 

 

(8) Zur Wirksamkeit der Beschlüsse ist eine einfache Mehrheit der abgegebenen Stimmen genügend …

 

Die Stimmrechtsverteilung erfolgt abweichend von der kapitalmäßigen Beteiligung der Gesellschafter nach folgendem Verteilungsschlüssel, wonach der Gründungsgesellschafterin T 2 vier Stimmen, dem Gründungsgesellschafter T 1 zwei Stimmen, der Gründungsgesellschafterin T 3 zwei Stimmen sowie weiteren hinzutretenden Neu-Gesellschaftern jeweils eine Stimme zustehen.

 

(9) Beschlüsse über nachfolgend aufgeführte Maßnahmen bedürfen eines einstimmigen Gesellschafterbeschlusses:

 

 

(7, richtig: 10) Solange Frau T 2 Gesellschafterin der Gesellschaft ist, steht ihr als nicht übertragbares und nicht vererbliches gesellschaftsrechtliches Sonderrecht bei allen Beschlussfassungen der Gesellschafterversammlung das Recht zu, bei Stimmengleichheit („Pattsituation“) mit ihrem Stimmrecht im Wege eines Stichentscheides eine Entscheidung der Gesellschafterversammlung herbeizuführen. …“

 

Mit der Urkunde UR-Nr. des Notars O vom 29.11.2007 brachten Frau T 2, Herr T 1 und Frau T 3 ihren privaten Grundbesitz in die Klägerin ein. Wegen der Einzelheiten wird auf den Vertrag (Blatt 91 ff. der Vertragsakte) Bezug genommen.

 

Mit notarieller Urkunde UR-Nr. vom 29.11.2007 wurden folgende Schenkungen von Teil-Kommanditanteilen an der Klägerin im Wege der vorweggenommenen Erbfolge unter Nießbrauchsvorbehalt vereinbart:

 

– Frau T 2 an Herrn T 1: 39 %;

 

– Herr T 1 an T 4 (geboren 00.00.1995): 9 %;

 

– Frau T 3 an T 4: 19 %.

 

Frau T 4 ist die gemeinsame Tochter der Eheleute T 1 und T 3.

 

Neben dem Haftkapital sollten auch sämtliche anderen Gesellschafterkonten in der entsprechenden Quote übertragen werden. Die Schenkungen und entsprechenden Übertragungen sollten mit sofortiger Wirkung erfolgen.

 

In § 3 des Vertrages war der Nießbrauch als Vorbehaltsnießbrauch geregelt. Er sollte lebenslänglich und unentgeltlich sein, mit sofortiger Wirkung und nach Maßgabe der gesetzlichen Bestimmungen gelten. Den Nießbrauchern gebühren die während des Nießbrauchs auf die Beteiligung entfallenden Gewinnanteile. Die mit den Beteiligungen verbundenen Mitgliedschaftsrechte, insbesondere die Stimmrechte, stehen den jeweiligen Beschenkten zu. Sie verpflichten sich alles zu unterlassen, was die Beteiligung als solche beeinträchtigen oder vereiteln könnte. Das Nießbrauchrecht sollte aufschiebend bedingt auf den Tod des berechtigten Nießbrauchers inhaltsgleich auch dessen Ehegatten eingeräumt werden.

 

Mit Urkunde UR-Nr. des Notars O vom 29.11.2007 übertrugen Frau T 2, Herr T 1 und Frau T 3 ihre jeweiligen Geschäftsanteile an der E-GmbH im Wege der Sacheinlage auf die Klägerin. Die Übertragung und Abtretung erfolgten mit sofortiger Wirkung, aber nicht vor Eintragung der Gesellschaft in das Handelsregister. Zugleich wurde beschlossen, die drei Geschäftsanteile wieder zu einem Geschäftsanteil im Nennwert von 25.000 Euro zusammenzulegen.

 

Am 06.12.2007 führte die U GmbH & Co. KG eine außergewöhnliche Gesellschafterversammlung durch (Blatt 117 f. der Vertragsakte). Hierin wurde beschlossen, dass die Einbringung der Grundstücke A-Straße 1, P, und B-Straße 2, G, gegen Gewährung von Gesellschaftsrechten nicht dem übereinstimmenden Willen der Beteiligten entsprochen habe. Beide Grundbesitzungen hätten ohne Gegenleistung auf die Gesellschaft als verdeckte Einlage übertragen werden sollen. Dies werde nunmehr korrigiert.

 

Der Ergänzungspfleger erteilte am 11.02.2009 seine Zustimmung zu dem Vertrag UR-Nr. betreffend Frau T 4.

 

Insgesamt beliefen sich die Beteiligungen zum Abschluss der Rechtsveränderungen auf

 

T 2 30 %

 

T 1 41 %

 

T 3 1 %

 

T 4 28 %.

 

II.

 

Für die Streitjahre 2008 und 2009 stellte der Beklagte die Gewinne erklärungsgemäß unter dem Vorbehalt der Nachprüfung als gewerbliche Einkünfte gesondert und einheitlich fest.

 

In den Jahren 2011 und 2012 führte der Beklagte bei der Klägerin eine Betriebsprüfung durch. Der Prüfer gelangte zu der Auffassung, dass ab dem 05.02.2008 bei der Klägerin nicht mehr die Voraussetzungen einer gewerblichen Prägung im Sinne von § 15 Abs. 3 Nr. 2 EStG erfüllt seien. Ausdrücklich sei gesellschaftsvertraglich geregelt, dass die Geschäfte der Klägerin auch von ihren Kommanditisten geführt würden. Dies führe mit Wirkung vom 05.02.2008 zu einer Betriebsaufgabe. Entsprechende Aufgabegewinne bezüglich des Immobilienbesitzes seien zu erfassen. Die folgenden Einkünfte seien als solche aus Vermietung und Verpachtung zu qualifizieren. Wegen der Einzelheiten wird auf den Betriebsprüfungsbericht vom 25.06.2012 (s. Bp-Akte) verwiesen.

 

Der Beklagte schloss sich dieser Auffassung an und erließ am 21.08.2012, geändert am 14.09.2012 für beide Streitjahre geänderte Bescheide über die gesonderte und einheitliche Feststellung von Einkünften, auf die wegen der Einzelheiten verwiesen wird.

 

Hiergegen legte die Klägerin Einspruch ein, den der Beklagte mit Einspruchsentscheidung vom 08.02.2013 als unbegründet zurückwies. Er vertrat weiterhin die Auffassung, dass mit den Eintragungen im Handelsregister vom 05.02.2008 die gewerbliche Prägung der Klägerin entfallen sei. Nach den Feststellungen der Betriebsprüfung seien nunmehr aufgrund gesellschaftsvertraglicher Regelungen auch die Kommanditisten zur Geschäftsführung in der KG befugt. Darin liege eine Betriebsaufgabe im Sinne des § 16 Abs. 3 EStG. Dies ergebe sich aus den Regelungen in §§ 6 und 7 des Gesellschaftsvertrages. Ab diesem Zeitpunkt erziele die Klägerin Einkünfte aus Vermietung und Verpachtung im Sinne des § 21 EStG. Der festgestellte Aufgabegewinn sei der Höhe nach nicht zu beanstanden.

 

Mit der Klage verfolgt die Klägerin ihr Begehren auf Anerkennung der gewerblichen Prägung vor Gericht. Sie wiederholt und vertieft ihr außergerichtliches Vorbringen: Es seien nicht die zur Geschäftsführung befugten Gesellschafter im Handelsregister eingetragen worden, sondern die E-GmbH. Nur diese könne im Außenverhältnis alle Angelegenheiten für die Klägerin regeln. Darauf allein komme es nach Sinn und Zweck der Regelung an. Nach einhelliger gesellschaftsrechtlicher Meinung sei bei der Einheits-GmbH & Co. KG zu beachten, dass die Geschäftsführer der Komplementär-GmbH die Gesellschafterrechte der GmbH & Co. KG in der Gesellschafterversammlung der GmbH & Co. KG nicht wirksam ausüben könnten. § 7 des Gesellschaftsvertrages regele somit etwas, was ohnehin schon selbstverständlich sei. Die gewählte Formulierung entspreche gängiger Praxis der Vertragsgestaltung. Auch die Finanzverwaltung gehe von diesen Grundsätzen aus (R 15.8 Abs. 6 Satz 5 EStR). Es sei aber nur ein Aufgabegewinn in Höhe von X Euro statt der von der Finanzverwaltung angesetzten X Euro zu berücksichtigen, wenn man der Auffassung des Beklagten folgen wolle. Dies folge aus der unterschiedlichen Bewertung des fraglichen Grundbesitzes.

 

Die Klägerin beantragt,

 

 

unter Abänderung der Bescheide über die gesonderte und einheitliche Feststellung von Besteuerungsgrundlagen für 2008 und 2009, sämtlich zuletzt vom 14.09.2012, in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 08.02.2013 für den Feststellungszeitraum 2008 die Einkünfte aus Gewerbebetrieb auf 118.406,81 Euro und die Einkünfte aus Vermietung und Verpachtung auf 0 Euro sowie für den Feststellungszeitraum 2009 die Einkünfte aus Gewerbebetrieb auf 67.435,87 Euro und die Einkünfte aus Vermietung und Verpachtung auf 0 Euro gesondert und einheitlich festzustellen,

 

hilfsweise für den Fall des Unterliegens, die Revision zuzulassen.

 

Der Beklagte beantragt,

 

 

die Klage abzuweisen,

 

hilfsweise für den Fall des Unterliegens, die Revision zuzulassen.

 

Er verweist im Wesentlichen auf die Einspruchsentscheidung. Insbesondere macht er geltend, Rechtsfolge der Beteiligung von Kommanditisten an der Geschäftsführung der Personengesellschaft sei in jedem Fall, dass die gewerbliche Prägung entfalle.

 

Der Senat hat am 28.08.2014 mündlich verhandelt. Auf die Sitzungsniederschrift wird verwiesen.

 

 

Entscheidungsgründe

 

Die Klage ist zulässig und begründet.

 

Die angefochtenen Bescheide in Gestalt der Einspruchsentscheidung sind rechtswidrig und verletzen die Klägerin in ihren Rechten (§ 100 Abs. 1 Satz 1 Finanzgerichtsordnung – FGO). Der Beklagte ist zu Unrecht vom Wegfall einer gewerblichen Prägung der Klägerin mit Wirkung ab 05.02.2008 mit der Folge einer Betriebsaufgabe ausgegangen.

 

1. Es ist zwischen den Beteiligten außer Streit, dass die Klägerin keine originär gewerblichen Einkünfte im Sinne des § 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 und 2 EStG erzielt. Ihr Gesellschaftszweck erschöpft sich in der Vermögensverwaltung.

 

2. Die Klägerin ist eine gewerblich geprägte Personengesellschaft im Sinne des § 15 Abs. 3 Nr. 2 EStG. Danach gilt als Gewerbebetrieb in vollem Umfang die mit Einkünfteerzielungsabsicht unternommene Tätigkeit einer Personengesellschaft, die keine Tätigkeit im Sinne des § 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 EStG ausübt und bei der ausschließlich eine oder mehrere Kapitalgesellschaften persönlich haftende Gesellschafter sind und nur diese oder Personen, die nicht Gesellschafter sind, zur Geschäftsführung befugt sind.

 

Die Einkünfteerzielungsabsicht ist ersichtlich und zu Recht zwischen den Beteiligten außer Streit. Persönlich haftende Gesellschafterin der Klägerin ist ausweislich der Vertragswerke in Übereinstimmung mit den Handelsregistereintragungen die E-GmbH, mithin eine Kapitalgesellschaft.

 

Nur diese ist auch zur Geschäftsführung befugt. Dies ergibt sich aus § 6 des Gesellschaftsvertrages. Danach ist zur Vertretung und zur Geschäftsführung der Klägerin die persönlich haftende Gesellschafterin berechtigt und verpflichtet, d. h. die E-GmbH.

 

Entgegen der Auffassung der Klägerin kann bzgl. der Geschäftsführung nicht auf das Außenverhältnis abgestellt werden. Insoweit ist immer die E-GmbH als persönlich haftende Gesellschafterin zur Vertretung berechtigt und verpflichtet. Die Geschäftsführungsbefugnis i. S. des § 15 Abs. 3 Nr. 2 EStG richtet den Blick vielmehr auf das Innenverhältnis. So können abweichend vom Regelstatut Kommanditisten Geschäftsführungsbefugnisse eingeräumt werden (vgl. Reiß in Kirchhof, EStG, 2014, § 15 Rz 141 mit weiteren Nachweisen). Diese Regelung des Gesellschaftsvertrages führt zur Annahme einer organschaftlichen Befugnis zur Geschäftsführung, was nicht zu beanstanden ist (BFH, Urteil vom 23.02.2011 I R 52/10, BFH/NV 2011, 1354).

 

Es bedarf aber nicht derartiger Konstruktionen, wie sie die Klägerin diskutiert hat, da entgegen der Auffassung des Beklagten § 7 des Gesellschaftsvertrages an der grundsätzlichen Geschäftsführungsbefugnis der E-GmbH innerhalb der Klägerin nichts ändert. Nach dem ausdrücklichen Wortlaut von Überschrift und Inhalt trifft § 7 des Gesellschaftsvertrages nur Sonderregelungen für den Fall, der insbesondere wegen der § 47 Abs. 4 und § 46 Nr. 5 des GmbH-Gesetzes gerade bei der Einheitsgesellschaft problematisch ist, nämlich der Wahrnehmung der Rechte an der Komplementärin, wie sein Abs. 1 auch klar zum Ausdruck bringt.

 

Erfasst sind von dieser Klausel allein die Beschlüsse, die die Geschäftsführung in der GmbH betreffen. § 7 des Gesellschaftsvertrages hat nach Auffassung des Senats allein die Funktion, die Willensbildung in der GmbH auch in dem für eine Einheits-GmbH & Co. KG typischen Konfliktfall zu organisieren und einen ordentlichen Geschäftsbetrieb aufrecht zu erhalten. Diese Willensbildung führt nicht zur Geschäftsführung der Kommanditisten in der KG – diese bleibt weiterhin bei der E-GmbH -, vielmehr setzt die GmbH den nach § 7 des Gesellschaftsvertrages gebildeten Willen in der KG geschäftsführend um. Werden solche Regelungen nicht getroffen, könnte die GmbH & Co. KG handlungsunfähig werden oder die gerichtliche Durchsetzung von Beschlüssen notwendig werden, die zu nicht mehr kalkulierbaren Situationen für die Gesellschaft führen können (vgl. BFH, Urteil vom 16.07.2007 II ZR 109/06, DB 2007, 1916 mit Anmerkungen von Gehrlein, BB 2007, 1515 [BVerfG 30.05.2007 – 1 BvR 390/04]; Kort, EWiR 2007, 689 [BGH 16.07.2007 – II ZR 109/06]; Werner, GmbHR 2007, 1035; s. auch Carlé, GmbHR 2001, 100; Werner, DStR 2006, 706; Karsten Schmidt, Festschrift Westermann, 2008, S. 1425). Die Ersatzzuständigkeit der Kommanditisten verhindert also für eine Einheits-GmbH & Co. KG im Ergebnis nicht hinnehmbare Komplikationen.

 

Hier bestehen Parallelen zu einem ebenfalls denkbaren gesonderten, aber personenidentischen Gesellschafterausschuss der Kommanditisten. § 7 des Gesellschaftsvertrages kann auch als in das KG-Vertragswerk hineingezogene Satzungsbestimmung der Komplementärin verstanden werden. Diese Regelung ist nach ihrem Sinn und Zweck nicht auf die Klägerin übertragbar. Für diese bleibt es bei der allgemeinen Regelung des § 6 des Gesellschaftsvertrages. Die von dem Beklagten aufgeworfenen Probleme stellen sich nach Überzeugung und Auslegung des Senats nicht. Der Senat kann sich für diese Sach- und Rechtslage nicht der Auffassung des Beklagten anschließen, dass als angemessen und rechtlich einwandfrei lediglich eine gesellschaftsvertragliche Vollmachtserteilung an die Kommanditisten angesehen werden könnte. § 9 des Gesellschaftsvertrages führt zu keiner anderen Beurteilung.

 

3. Daraus folgt, dass eine Betriebsaufgabe gemäß § 16 Abs. 3 EStG nicht vorliegt und in der Folgezeit weiterhin gewerbliche Einkünfte anfallen. Diese sind entsprechend dem Antrag der Klägerin, der mangels anderweitiger materieller Feststellungen des Betriebsprüfers zutreffend auf die Wiederherstellung der Bescheidlage vor der Betriebsprüfung hinausläuft, gesondert und einheitlich festzustellen. Die Zuweisung der Gewinne auf die Feststellungsbeteiligten ist nicht streitig.

 

Eine Bewertungsfrage bzgl. des Immobilienbesitzes stellt sich bei dieser Sach- und Rechtslage nicht.

 

4. Die Kostenentscheidung folgt aus § 135 Abs. 1 FGO, die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit aus § 151 Abs. 3, § 155 FGO i. V. m. § 708 Nr. 10, § 711 der Zivilprozessordnung.

 

Die Revision ist im Hinblick auf die Anwendung des § 15 Abs. 3 Satz 2 EStG auf gesellschaftsvertragliche Regelungen der vorliegenden Art unter besonderer Berücksichtigung der Besonderheiten einer Einheitsgesellschaft gem. § 115 Abs. 2 Nr. 2 FGO zur Rechtsfortbildung zuzulassen.

 

28.08.2014, 3 K 743 / 13
Fundstelle
FuS Ausgabe 4 / 2015, S. 155

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