Handelsrecht, Gesellschaftsrecht

Inwieweit darf ein Geschäftsführer einer GmbH nach Eintritt der Insolvenzreife (Überschuldung oder Zahlungsunfähigkeit) noch rückständige Steuern bzw. Sozialabgaben bezahlen?

Prof. Rainer Kirchdörfer, Rechtsanwalt

Der Geschäftsführer haftet nicht nach § 64 Satz 1 GmbHG, wenn er nach Eintritt der Insolvenzreife rückständige Umsatz- und Lohnsteuern an das Finanzamt und rückständige Arbeitnehmeranteile zur Sozialversicherung an die Einzugsstelle zahlt.

Problemstellung und praktische Bedeutung

Wie komplex und für den Geschäftsführer haftungsrechtlich relevant seine Handlungen in Insolvenznähe sind, zeigt der Sachverhalt, der dem vorstehenden Urteil des BGH zugrunde lag. Der vom Insolvenzverwalter verklagte Geschäftsführer einer Bauingenieurgesellschaft mbH hatte drei Monate vor Stellung eines Antrages auf Insolvenzeröffnung eine Zahlung an die AOK zur Begleichung rückständiger Sozialversicherungsbeiträge (Arbeitgeberanteil und Arbeitnehmeranteil) und eine Zahlung rückständiger Umsatzsteuer und einbehaltener Lohnsteuer an das Finanzamt geleistet. Der Insolvenzverwalter behauptet nun, die Bauingenieurgesellschaft mbH sei zum Zeitpunkt der Zahlung bereits überschuldet gewesen, der Geschäftsführer habe deshalb diese Zahlungen nicht mehr leisten dürfen und hafte nun auf Schadensersatz zur Konkursmasse gem. § 64 GmbHG.

Entscheidungsgründe und weitere Hinweise

Auf den ersten Blick hat der Insolvenzverwalter Recht. Nach § 64 GmbHG sind die Geschäftsführer „der Gesellschaft zum Ersatz von Zahlungen verpflichtet, die nach Eintritt der Zahlungsunfähigkeit der Gesellschaft oder nach Feststellung ihrer Überschuldung geleistet werden“. Dies gilt aber nicht „für Zahlungen, die auch nach diesem Zeitpunkt mit der Sorgfalt eines ordentlichen Geschäftsmanns vereinbar sind“. Da die Zahlung nach Eintritt der Überschuldung geleistet wurde, stellte sich dem BGH die Frage, ob sie trotzdem mit der Sorgfalt eines ordentlichen Geschäftsleiters vereinbar ist.

Zur Lösung des Falles muss man sich verdeutlichen, dass der Geschäftsführer einer GmbH, der Sozialversicherungsbeiträge oder Steuern nicht abführt, in einer prekären Situation ist. Führt er Umsatzsteuer oder einbehaltene Lohnsteuer nämlich nicht an das Finanzamt ab, so begeht er eine Ordnungswidrigkeit und setzt sich zudem der persönlichen Haftung für die Zahlung der Steuern gegenüber dem Fiskus gem. § 69 AO aus. Der BGH hat diese kaum zu lösende Pflichtenkollision gesehen und zugunsten des Geschäftsführers entschieden, dass die Zahlungen von Umsatz- und Lohnsteuern mit der Sorgfalt eines ordentlichen Geschäftsmannes zu vereinbaren sind. Da mit der Nachzahlung auch die persönliche Haftung des Geschäftsführers nach § 69 AO entfällt, kann es dem Geschäftsführer nämlich nicht zugemutet werden, das Zahlungsverbot des § 64 GmbHG (sog. Massesicherungspflicht) zu beachten. Diese Rechtsprechung bezieht sich nicht nur auf laufende, erst nach Eintritt der Insolvenzreife fällig werdende Steuerforderungen, sie bezieht sich auch auf Steuerrückstände.

Die vorstehenden Erwägungen gelten mit Einschränkungen auch für die gezahlten Sozialversicherungsbeiträge. Hier ist jedoch zu unterscheiden: Soweit es um die Arbeitnehmeranteile zur Sozialversicherung geht, handelt der Geschäftsführer einer GmbH grds. mit der Sorgfalt eines ordentlichen Geschäftsmannes und haftet deshalb nicht nach § 64 GmbHG, wenn er nach Eintritt der Insolvenzreife fällige Arbeitnehmeranteile oder auch Beitragsrückstände an die zuständige sozialversicherungs- rechtliche Einzugsstelle bezahlt. Der Geschäftsführer befindet sich insoweit nämlich in einer der Zahlung fälliger Steuern vergleichbaren Pflichtenkollision, weil er sich nach § 266a StGB strafbar macht, wenn er „der Einzugsstelle Beiträge des Arbeitnehmers zur Sozialversicherung … vorenthält…“. Anderes gilt aber im Hinblick auf die Arbeitgeberanteile. Insoweit befindet sich nämlich der zahlende Geschäftsführer nicht in einer Pflichtenkollision. Nur das Vorenthalten von Arbeitnehmerbeiträgen ist nach § 266a StGB unter Strafe gestellt. Hinsichtlich der Arbeitgeberanteile fehlt es deshalb nach Ansicht des BGH an einem Grund, den Anwendungsbereich des Zahlungsverbots nach § 64 Satz 1 GmbHG einzuschränken.

Nach alledem handelt ein Geschäftsführer, der Arbeitgeberbeiträge zur gesetzlichen Sozialversicherung nach Eintritt der Zahlungsunfähigkeit oder nach Feststellung der Überschuldung abführt, nicht mehr mit der Sorgfalt eines ordentlichen Geschäftsmannes und haftet insoweit der Gesellschaft auf Schadensersatz.