BFH, Vorlagebeschluss vom 21.11.2013, II B 46 / 13

 

Tatbestand

1
I. Die Antragstellerin und
Beschwerdeführerin (Antragstellerin) ist die geschiedene Ehefrau des im
September 2011 verstorbenen Erblassers (E). Aufgrund eines Vermächtnisses
des E erhält sie auf Lebenszeit eine monatliche Rente von 2.700 EUR.
2
Der Antragsgegner und Beschwerdegegner
(das Finanzamt –FA–) setzte für den Erwerb der Antragstellerin in Höhe
von 342.015 EUR (Jahreswert der Rente 32.400 EUR x Vervielfältiger 10,556)
mit Bescheid vom 1. Oktober 2012 Erbschaftsteuer in Höhe von 71.000 EUR
fest, die die Antragstellerin am 2. November 2012 entrichtete.
3
Mit dem Einspruch machte die
Antragstellerin im Hinblick auf den Vorlagebeschluss des Bundesfinanzhofs
(BFH) vom 27. September 2012 II R 9/11 (BFHE 238, 241, BStBl II 2012, 899)
und das damit beim Bundesverfassungsgericht (BVerfG) anhängige Verfahren 1
BvL 21/12 die Verfassungswidrigkeit des Erbschaftsteuer- und
Schenkungsteuergesetzes in der Fassung des Erbschaftsteuerreformgesetzes
vom 24. Dezember 2008 –ErbStG– (BGBl I 2008, 3018) geltend. Das
Einspruchsverfahren ruht bis zu einer Entscheidung des BVerfG im Verfahren
1 BvL 21/12.
4
Die von der Antragstellerin beantragte
Aussetzung der Vollziehung (AdV) lehnte das FA ab. Die beim Finanzgericht
(FG) beantragte Aufhebung der Vollziehung wurde ebenfalls abgelehnt. Das FG
führte zur Begründung aus, das Aussetzungsinteresse der Antragstellerin
überwiege nicht die öffentlichen Interessen am ordnungsgemäßen
Gesetzesvollzug und an einer geordneten Haushaltsführung. Die festgesetzte
Erbschaftsteuer belaufe sich nur auf knapp 25 % des Erwerbs. Die
Antragstellerin könne etwaige finanzielle Härten durch die Wahl der
Jahresversteuerung gemäß § 23 ErbStG abmildern. Die Gewährung einer
Aufhebung der Vollziehung käme dagegen einem einstweiligen Außerkraftsetzen
des ErbStG gleich.
5
Mit der Beschwerde rügt die
Antragstellerin die Verletzung des § 69 Abs. 2 Sätze 2 und 7 sowie Abs. 3
Sätze 1 und 3 der Finanzgerichtsordnung (FGO). Die nach Art. 19 Abs. 4 des
Grundgesetzes (GG) gewährleistete Garantie auf effektiven Rechtsschutz
könne einem Steuerpflichtigen bei einem Verstoß gegen den Gleichheitsgrundsatz
(Art. 3 Abs. 1 GG) nicht dadurch faktisch entzogen werden, dass nach der
Rechtsprechung des BFH dem öffentlichen Interesse an einer geordneten
Haushaltswirtschaft der Vorrang vor dem Interesse des Steuerpflichtigen an
einer AdV eingeräumt werde (vgl. BFH-Beschluss vom 1. April 2010 II B
168/09, BFHE 228, 149, BStBl II 2010, 558). Außerdem fehle eine gesetzliche
Grundlage, die bei ernstlichen Zweifeln an der Verfassungsmäßigkeit einer
der Besteuerung zugrunde gelegten Norm ein besonderes berechtigtes
Interesse des Steuerpflichtigen an der AdV verlange. Die Ablehnung der AdV
sei auch nicht damit zu rechtfertigen, dass nach der Rechtsprechung des BFH
(II. Senat) regelmäßig keine weitergehende Entscheidung getroffen werden
könne als vom BVerfG zu erwarten sei (vgl. BFH-Beschluss vom 17. Juli 2003
II B 20/03, BFHE 202, 380, BStBl II 2003, 807). Dies bedeute eine
Vorwegnahme der Entscheidung in der Hauptsache, weil die fortgesetzte
Vollziehung aller Erbschaftsteuerbescheide kaum rückgängig zu machen sei
und damit für den einzelnen Steuerpflichtigen dauerhaft nachteilige
Wirkungen habe.
6
Die Antragstellerin beantragt, die
Vorentscheidung und die Vollziehung des Erbschaftsteuerbescheids vom 1.
Oktober 2012 aufzuheben.
7
Das FA beantragt, die Beschwerde als
unbegründet zurückzuweisen.

Gründe

8
II. Die Beschwerde ist begründet. Die
Vorentscheidung und die Vollziehung des angefochtenen
Erbschaftsteuerbescheids sind aufzuheben. Entgegen der Auffassung des FG
kommt dem Interesse der Antragstellerin an der Aufhebung der Vollziehung
der Vorrang gegenüber dem öffentlichen Interesse am Vollzug des ErbStG zu.
9
1. An der Rechtmäßigkeit des
angefochtenen Erbschaftsteuerbescheids bestehen –wie das FG zutreffend
ausgeführt hat– ernstliche Zweifel i.S. von § 69 Abs. 2 Satz 2 FGO.
10
a) Nach § 69 Abs. 3 Satz 1 i.V.m. Abs.
2 Satz 2 FGO hat das Gericht der Hauptsache die Vollziehung eines
angefochtenen Verwaltungsaktes ganz oder teilweise auszusetzen, wenn
ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des Verwaltungsaktes bestehen.
Ernstliche Zweifel sind zu bejahen, wenn bei summarischer Prüfung des
angefochtenen Steuerbescheids neben den für seine Rechtmäßigkeit
sprechenden Umständen gewichtige Gründe zutage treten, die
Unentschiedenheit oder Unsicherheit in der Beurteilung von Rechtsfragen bewirken
(ständige Rechtsprechung, vgl. BFH-Beschluss vom 3. April 2013 V B 125/12,
BFHE 240, 447, m.w.N.). Im Falle eines bereits vollzogenen Verwaltungsaktes
ist die Vollziehung wieder aufzuheben (§ 69 Abs. 3 Satz 3 FGO).
11
b) Im Streitfall bestehen ernstliche
Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit der Tarifvorschrift des § 19 Abs. 1
ErbStG. Beim BVerfG ist unter dem Az. 1 BvL 21/12 ein
Normenkontrollverfahren zu der Frage anhängig, ob die Vorschrift des § 19
Abs. 1 ErbStG i.V.m. §§ 13a und 13b ErbStG wegen Verstoßes gegen den
allgemeinen Gleichheitssatz (Art. 3 Abs. 1 GG) verfassungswidrig ist, weil
die in §§ 13a und 13b ErbStG vorgesehenen Steuervergünstigungen in
wesentlichen Teilbereichen von großer finanzieller Tragweite über das
verfassungsrechtlich gerechtfertigte Maß hinausgehen und dadurch die
Steuerpflichtigen, die die Vergünstigungen nicht beanspruchen können, in
ihrem Recht auf eine gleichmäßige, der Leistungsfähigkeit entsprechende und
folgerichtige Besteuerung verletzt werden (vgl. Vorlagebeschluss des BFH in
BFHE 238, 241, BStBl II 2012, 899).
12
2. Das Interesse der Antragstellerin
an der Aufhebung der Vollziehung ist gegenüber dem öffentlichen Interesse
am Vollzug des ErbStG vorrangig.
13
a) Nach ständiger Rechtsprechung setzt
eine Aufhebung der Vollziehung, die mit ernstlichen Zweifeln an der
Verfassungsmäßigkeit einer dem angefochtenen Steuerbescheid zugrunde
liegenden Gesetzesvorschrift begründet wird, voraus, dass nach den Umständen
des Einzelfalles ein besonderes berechtigtes Interesse des Antragstellers
an der Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes besteht, dem der Vorrang vor
dem öffentlichen Interesse am Vollzug des Gesetzes zukommt (vgl.
BFH-Beschlüsse in BFHE 228, 149, BStBl II 2010, 558; vom 21. Mai 2010 IV B
88/09, BFH/NV 2010, 1613; vom 9. März 2012 VII B 171/11, BFHE 236, 206,
BStBl II 2012, 418; vom 13. März 2012 I B 111/11, BFHE 236, 501, BStBl II
2012, 611; vom 9. Mai 2012 I B 18/12, BFH/NV 2012, 1489; vom 18. Juni 2012
II B 17/12, BFH/NV 2012, 1652; Erfordernis eines berechtigten Interesses
offen gelassen: BFH-Beschlüsse vom 23. August 2007 VI B 42/07, BFHE 218,
558, BStBl II 2007, 799, und vom 25. August 2009 VI B 69/09, BFHE 226, 85,
BStBl II 2009, 826).
14
Das BVerfG hat dieser Rechtsprechung
im Grundsatz zugestimmt (BVerfG-Beschlüsse vom 6. April 1988 1 BvR 146/88,
Steuerrechtsprechung in Karteiform –StRK–, Finanzgerichtsordnung, § 69,
Rechtsspruch 283; vom 3. April 1992 2 BvR 283/92, Höchstrichterliche
Finanzrechtsprechung –HFR– 1992, 726; kritisch insoweit Niedersächsisches
FG, Beschluss vom 6. Januar 2011 7 V 66/10, Entscheidungen der
Finanzgerichte –EFG– 2011, 827; Gosch in Beermann/Gosch, FGO, § 69 Rz 179
ff.; Gräber/ Koch, Finanzgerichtsordnung, 7. Aufl., § 69 Rz 113;
Schallmoser, Deutsches Steuerrecht –DStR– 2010, 297 ff.; Seer in
Tipke/Kruse, Abgabenordnung, Finanzgerichtsordnung, § 69 FGO Rz 97;
Specker, Deutsche Steuer-Zeitung 2010, 800, 802 f.; einschränkend auch FG
Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 13. Oktober 2011 12 V 12089/11, EFG 2012,
358). In neueren Entscheidungen hat das BVerfG die Frage, ob die
Rechtsprechung des BFH (in BFHE 228, 149, BStBl II 2010, 558) in jeder
Hinsicht mit Art. 19 Abs. 4 GG vereinbar ist, wegen der fehlenden
Entscheidungserheblichkeit offen gelassen (BVerfG-Beschlüsse vom 24.
Oktober 2011 1 BvR 1848/11, 1 BvR 2162/11, HFR 2012, 89, und vom 6. Mai
2013 1 BvR 821/13, HFR 2013, 639).
15
b) Bei der Prüfung, ob ein
berechtigtes Interesse des Steuerpflichtigen an der Aussetzung bzw. der
Aufhebung der Vollziehung eines Steuerbescheids vorliegt, ist das
individuelle Interesse des Steuerpflichtigen mit den gegen die Gewährung
vorläufigen Rechtsschutzes sprechenden öffentlichen Belangen abzuwägen.
Dabei kommt es maßgeblich einerseits auf die Bedeutung und die Schwere des
durch die Vollziehung des angefochtenen Steuerbescheids eintretenden
Eingriffs beim Steuerpflichtigen und andererseits auf die Auswirkungen
einer Aussetzung bzw. Aufhebung der Vollziehung auf den Gesetzesvollzug und
das öffentliche Interesse an einer geordneten Haushaltsführung an
(BFH-Beschlüsse in BFHE 228, 149, BStBl II 2010, 558; in BFHE 236, 206,
BStBl II 2012, 418; in BFHE 236, 501, BStBl II 2012, 611; in BFH/NV 2012,
1489).
16
c) Allerdings hat der BFH in Fällen,
in denen die ernstlichen Zweifel an der Rechtmäßigkeit des Verwaltungsaktes
auf Bedenken gegen die Verfassungsmäßigkeit einer dem Verwaltungsakt
zugrunde liegenden Gesetzesvorschrift beruhen, in verschiedenen Fallgruppen
dem Aussetzungsinteresse des Steuerpflichtigen den Vorrang vor den
öffentlichen Interessen eingeräumt (vgl. BFH-Beschluss in BFHE 228, 149,
BStBl II 2010, 558, m.w.N.). Dazu zählt auch der Fall, dass der BFH die vom
Antragsteller als verfassungswidrig angesehene Vorschrift bereits dem
BVerfG gemäß Art. 100 Abs. 1 GG zur Prüfung der Verfassungsmäßigkeit
vorgelegt hat (vgl. BFH-Beschlüsse in BFHE 228, 149, BStBl II 2010, 558,
und vom 23. April 2012 III B 187/11, BFH/NV 2012, 1328, jeweils m.w.N.).
17
Bis zur Entscheidung des BVerfG ist
zwar ungewiss, ob dieses die Vorschrift als verfassungswidrig beurteilen
und im Fall einer Verfassungswidrigkeit für nichtig oder (nur) für mit dem
GG unvereinbar erklären wird und welche Rechtsfolge es hieraus ziehen wird.
Jedoch hat der BFH vorläufigen Rechtsschutz auf der Basis seiner, der
Vorlage zugrunde liegenden Rechtsauffassung zu gewähren (vgl. BFH-Beschluss
vom 22. Dezember 2003 IX B 177/02, BFHE 204, 39, BStBl II 2004, 367,
m.w.N.). Eine Einschränkung des vorläufigen Rechtsschutzes bei
Verfassungsverstößen, von denen das Gericht überzeugt ist, gegenüber dem
bei sonstigen Rechtsverstößen zu gewährenden vorläufigen Rechtsschutz ist
dem rechtsuchenden Steuerpflichtigen im Hinblick auf seinen Anspruch auf
effektiven Rechtsschutz (Art. 19 Abs. 4 GG) nicht zuzumuten (vgl.
BFH-Beschluss in BFHE 204, 39, BStBl II 2004, 367). Mit dem Begehren nach
vorläufigem Rechtsschutz muss der Steuerpflichtige auch in Kauf nehmen,
dass bei einer Erfolglosigkeit des Einspruchs oder der Klage gegen den
Steuerbescheid Aussetzungszinsen nach § 237 der Abgabenordnung (AO)
anfallen, die für jeden Monat ein halbes Prozent betragen (§ 238 Abs. 1
Satz 1 AO).
18
d) Ist –wie bei der Erbschaftsteuer–
die dem BVerfG zur Prüfung vorgelegte Vorschrift allerdings eine Tarifnorm,
muss im Rahmen der Interessensabwägung auch berücksichtigt werden, dass in
diesem Fall die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes praktisch zu einer
einstweiligen Nichterhebung der gesamten Steuer führen kann. Die Kompetenz,
den Vollzug eines Gesetzes auszusetzen, steht aber nach § 32 Abs. 1 des
Gesetzes über das Bundesverfassungsgericht allein dem BVerfG zu, das von
dieser Möglichkeit nur bei Vorliegen besonders gewichtiger Gründe Gebrauch
machen darf (BVerfG-Beschluss vom 22. Mai 2001 2 BvQ 48/00, BVerfGE 104,
23, 27 f.). Dennoch hat ein Steuerpflichtiger auch in einem solchen Fall
Anspruch auf effektiven Rechtsschutz. Nur in Ausnahmefällen können
überwiegende öffentliche Belange es rechtfertigen, den Rechtsschutzanspruch
des Grundrechtsträgers einstweilen zurückzustellen (vgl. BVerfG-Beschluss
in StRK, Finanzgerichtsordnung, § 69, Rechtsspruch 283).
19
e) Nachdem zur Prüfung der
Verfassungsmäßigkeit des § 19 Abs. 1 ErbStG i.V.m. §§ 13a und 13b ErbStG
aufgrund des Vorlagebeschlusses des BFH (in BFHE 238, 241, BStBl II 2012,
899) ein Normenkontrollverfahren beim BVerfG anhängig ist, ist die
Vollziehung eines auf § 19 Abs. 1 ErbStG beruhenden
Erbschaftsteuerbescheids auf Antrag des Steuerpflichtigen auszusetzen oder
aufzuheben, wenn ein berechtigtes Interesse des Steuerpflichtigen an der
Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes besteht. Ein berechtigtes Interesse
liegt jedenfalls vor, wenn der Steuerpflichtige mangels des Erwerbs
liquider Mittel (wie z.B. Bargeld, Bankguthaben, mit dem Ableben des
Erblassers fällige Versicherungsforderungen) zur Entrichtung der
festgesetzten Erbschaftsteuer eigenes Vermögen einsetzen oder die
erworbenen Vermögensgegenstände veräußern oder belasten muss. In diesen
Fällen kann der Erwerber die Erbschaftsteuer nicht bzw. nicht ohne weitere,
ggf. auch verlustbringende Dispositionen aus dem Erwerb begleichen. Es ist
ihm hier deshalb nicht zuzumuten, die Erbschaftsteuer vorläufig zu
entrichten. Wegen des vorrangigen Interesses des Steuerpflichtigen steht
der Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes nicht entgegen, dass das ErbStG
als formell zustande gekommenes Gesetz bis zu einer gegenteiligen
Entscheidung des BVerfG Geltung beansprucht und von den Behörden und
Gerichten anzuwenden ist.
20
Gehören dagegen zu dem der
Erbschaftsteuer unterliegenden Erwerb auch verfügbare Zahlungsmittel, die
zur Entrichtung der Erbschaftsteuer eingesetzt werden können, fehlt
regelmäßig ein vorrangiges Interesse des Steuerpflichtigen an der Gewährung
vorläufigen Rechtsschutzes. Durch die Begleichung der Erbschaftsteuer
vermindern sich lediglich die dem Steuerpflichtigen mit dem Erwerb
zugeflossenen Zahlungsmittel, so dass die vorläufige Zahlung der
Erbschaftsteuer dem Steuerpflichtigen zuzumuten ist.
21
f) Im Streitfall ist das Interesse der
Antragstellerin an der Aufhebung der Vollziehung des
Erbschaftsteuerbescheids gegenüber dem öffentlichen Interesse am Vollzug
des ErbStG vorrangig.
22
aa) Die Antragstellerin konnte die mit
Bescheid vom 1. Oktober 2012 festgesetzte Erbschaftsteuer von 71.000 EUR
bei Fälligkeit nicht aus den ihr zu diesem Zeitpunkt zugeflossenen
Rentenzahlungen von monatlich 2.700 EUR entrichten. Wegen des Ansatzes der Rente
nach § 12 Abs. 1 ErbStG i.V.m. § 14 Abs. 1 des Bewertungsgesetzes mit dem
Kapitalwert war ein Erwerb nach § 3 Abs. 1 Nr. 1 ErbStG in Höhe von 342.015
EUR (Jahreswert der Rente 32.400 EUR x Vervielfältiger 10,556) zu
besteuern. Die dafür festgesetzte Erbschaftsteuer überstieg zum Zeitpunkt
der Fälligkeit die Rentenzahlungen, die die Antragstellerin bis dahin für
die Zeit nach dem Ableben des E (im September 2011) erhalten hatte. Die
Rentenzahlungen dienten im Übrigen –nach dem unbestrittenen Vortrag der
Antragstellerin im Einspruchsverfahren– der Bestreitung ihres
Lebensunterhalts, so dass die Antragstellerin den Zahlungseingang von
vornherein allenfalls nur in einem hier zu vernachlässigenden Umfang zur
Begleichung der Erbschaftsteuer verwenden konnte. Die Erbschaftsteuer
musste überwiegend aus eigenen Mitteln der Antragstellerin entrichtet
werden. Im Hinblick darauf ist derzeit ein berechtigtes Interesse der
Antragstellerin an der Aufhebung der Vollziehung des
Erbschaftsteuerbescheids auch insoweit gegeben, als sie in der Zeit ab
Fälligkeit der Erbschaftsteuer bis zur Entscheidung über die Gewährung
vorläufigen Rechtsschutzes weiterhin Rentenzahlungen erhalten hat. Dies
schließt einen späteren Änderungsantrag nach § 69 Abs. 6 Satz 2 FGO nicht
aus.
23
bb) Der Gewährung vorläufigen
Rechtsschutzes kann nicht entgegen gehalten werden, dass die
Antragstellerin das Wahlrecht nach § 23 ErbStG hätte ausüben können.
24
Nach § 23 Abs. 1 Satz 1 ErbStG können
Steuern, die von dem Kapitalwert von Renten zu entrichten sind, nach Wahl
des Erwerbers statt vom Kapitalwert jährlich im Voraus von dem Jahreswert
entrichtet werden. Durch das Wahlrecht soll die unbillige Härte abgemildert
werden, die sich aus der Besteuerung von Renten mit dem Kapitalwert ergibt,
wenn dem Erwerber zur Begleichung der hohen Steuer die liquiden Mittel
fehlen (vgl. Schuck in Viskorf/Knobel/Schuck, Erbschaftsteuer- und
Schenkungsteuergesetz, Bewertungsgesetz, 4. Aufl., § 23 ErbStG Rz 1). Das
Wahlrecht ist jedoch mit dem Nachteil verbunden, dass die Erbschaftsteuer
in diesem Fall nach der wirklichen und nicht nach der auf der
Wahrscheinlichkeitsrechnung beruhenden Lebensdauer erhoben wird; lebt der
Berechtigte länger als es der Wahrscheinlichkeitsrechnung entspricht, so
ist die Gesamtbelastung höher (vgl. Schuck, a.a.O., § 23 ErbStG Rz 16).
Zudem muss auch bei Ausübung dieses Wahlrechts die Erbschaftsteuer jährlich
im Voraus beglichen werden. Der Antragstellerin muss deshalb die
Entscheidung überlassen bleiben, ob sie das gesetzliche Wahlrecht in
Anspruch nimmt oder nicht. Allein das Bestehen des einfachgesetzlichen
Wahlrechts nach § 23 ErbStG kann nicht dazu führen, das grundgesetzlich
geschützte Recht der Antragstellerin auf effektiven Rechtsschutz nach Art.
19 Abs. 4 GG einzuschränken. Der Antragstellerin stehen beide Rechte
gleichermaßen zu.
25
3. Soweit der Senat bisher vorläufigen
Rechtsschutz versagt hat, wenn zu erwarten ist, dass das BVerfG lediglich
die Unvereinbarkeit eines Gesetzes mit dem GG aussprechen und dem
Gesetzgeber eine Nachbesserungspflicht für die Zukunft aufgeben wird (vgl. BFH-Beschlüsse
vom 11. Juni 1986 II B 49/83, BFHE 146, 474, BStBl II 1986, 782; vom 11.
September 1996 II B 32/96, BFH/NV 1997, 270; in BFHE 202, 380, BStBl II
2003, 807; vom 5. April 2011 II B 153/10, BFHE 232, 380, BStBl II 2011,
942; vom 4. Mai 2011 II B 151/10, BFH/NV 2011, 1395), wird daran im
Hinblick auf die geäußerte Kritik (vgl. Seer, a.a.O., § 69 FGO Rz 96;
derselbe, DStR 2012, 325, 328 f.; Gosch, a.a.O., § 69 Rz 180.1;
Gräber/Koch, a.a.O., § 69 Rz 113; Anwendung offen gelassen: BFH-Beschlüsse
in BFHE 236, 501, BStBl II 2012, 611, und in BFH/NV 2012, 1489) nicht mehr
festgehalten.
26
Es ist nicht gerechtfertigt, aufgrund
einer Prognose über die Entscheidung des BVerfG vorläufigen Rechtsschutz
generell auszuschließen. Ist ein qualifiziertes Interesse des
Steuerpflichtigen an der Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes vorhanden,
muss es im Hinblick auf Art. 19 Abs. 4 GG auch effektiv durchsetzbar sein
und darf nicht deshalb leerlaufen, weil das BVerfG möglicherweise in einem
Normenkontrollverfahren eine Weitergeltung verfassungswidriger Normen
anordnet. Aus diesem Grund ist auch im Streitfall eine Aufhebung der
Vollziehung unabhängig davon zu gewähren, ob das BVerfG im Verfahren 1 BvR
21/12 für den Fall, dass es zu der Überzeugung gelangt, § 19 Abs. 1 ErbStG
sei mit dem GG unvereinbar, die Norm für nichtig erklärt oder wiederum eine
zeitlich beschränkte Weitergeltung anordnet. Sollte das BVerfG eine solche
Weitergeltungsanordnung treffen und dem Gesetzgeber eine Neuregelung aufgeben,
besteht auch die Möglichkeit, dass die Neuregelung des ErbStG den
Steuerpflichtigen, deren Erwerbe zeitlich von der Weitergeltungsanordnung
erfasst werden, ein Wahlrecht auf Anwendung des neuen Rechts einräumt.
27
4. Die Vollziehung des
Erbschaftsteuerbescheids vom 1. Oktober 2012 war ohne Sicherheitsleistung
aufzuheben.
28
Nach § 69 Abs. 3 Satz 3 FGO kann die
Aufhebung der Vollziehung auch gegen Sicherheit angeordnet werden. Durch
die Verknüpfung mit einer Sicherheitsleistung sollen Steuerausfälle bei
einem für den Steuerpflichtigen ungünstigen Verfahrensausgang vermieden werden.
Die Vollziehung eines angefochtenen Verwaltungsaktes ist regelmäßig ohne
Sicherheitsleistung auszusetzen, wenn seine Rechtmäßigkeit ernstlich
zweifelhaft ist und keine konkreten Anhaltspunkte dafür bestehen, dass bei
einem Unterliegen des Antragstellers im Hauptsacheverfahren die
Durchsetzung des Steueranspruchs gefährdet wäre (BFH-Beschluss vom 12.
September 2011 VIII B 70/09, BFH/NV 2012, 229, Rz 21). Im Streitfall gibt
es keine Anzeichen dafür, dass die Antragstellerin nicht über eine
gesicherte Vermögenslage verfügt und daher die Gefahr eines Steuerausfalls
besteht.

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